Reformation. Macht. Politik - Evangelische Kirche in Deutschland
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<strong>Reformation</strong><br />
5. TOLERANZ<br />
ALS STAATSPRINZIP<br />
Die <strong>Reformation</strong> brachte mit der Verstetigung<br />
der protestantischen <strong>Kirche</strong>n und<br />
Territorien sowie deren nachträglichen<br />
rechtlichen Absicherung <strong>in</strong> der Reichsverfassung<br />
e<strong>in</strong> neues Verständnis von<br />
Toleranz hervor. Dieses Pr<strong>in</strong>zip g<strong>in</strong>g <strong>in</strong><br />
die Verfassungen der modernen Staaten<br />
e<strong>in</strong> (Grundrechte, hier <strong>in</strong>sbes. die Glaubens-,<br />
Gewissens- und Bekenntnisfreiheit,<br />
als Verkörperung von Toleranz).<br />
Vgl. Art. 4 Abs. 1 GG: „Die Freiheit des Glaubens,<br />
des Gewissens und die Freiheit des religiösen und<br />
weltanschaulichen Bekenntnisses s<strong>in</strong>d unverletzlich.“<br />
9. EHESCHLIESSUNGS-<br />
FREIHEIT<br />
Das neue Verständnis, welches die <strong>Reformation</strong><br />
<strong>in</strong> Bezug auf die Rolle der<br />
Geschlechter und die S<strong>in</strong>nhaftigkeit<br />
ihrer Beziehungen zue<strong>in</strong>ander hervorbrachte,<br />
führte zu e<strong>in</strong>er Entscheidungsfreiheit<br />
der Individuen darüber, ob sie<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ehe zusammenleben wollen<br />
oder nicht. Ke<strong>in</strong>e religiöse/kirchliche<br />
B<strong>in</strong>dung sollte sie fortan dar<strong>in</strong> h<strong>in</strong>dern.<br />
Grundsätzlich kann niemand gezwungen<br />
werden, e<strong>in</strong>e Ehe zu schließen;<br />
grundsätzlich kann niemand gezwungen<br />
werden, ke<strong>in</strong>e Ehe zu schließen.<br />
Vgl. § 1588 BGB: „Die kirchlichen Verpflichtungen<br />
<strong>in</strong> Ansehung der Ehe werden durch Vorschriften<br />
dieses Abschnitts nicht berührt.“<br />
6.<br />
ANFÄNGE DER RE<br />
LIGIONSFREIHEIT<br />
BZW. FREIZÜGIGKEIT<br />
In dem mit dem Pr<strong>in</strong>zip „cuius<br />
regio eius religio“ korrespondierenden<br />
Recht, das<br />
vom Landesherrn konfessionell<br />
bestimmte Territorium<br />
zu verlassen (ius emigrandi),<br />
kann e<strong>in</strong>e Wurzel der Religionsfreiheit<br />
und des modernen<br />
Freizügigkeitsrechts gesehen werden<br />
(„Dieses Abzugs- oder Emigrationsrecht musste<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Welt, der die Idee der Toleranz noch<br />
fremd war, als e<strong>in</strong> Maximum <strong>in</strong>dividueller Freiheit<br />
gelten.“). An e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Religionsfreiheit<br />
war jedoch nicht gedacht.<br />
Vgl. etwa Art. 11 Abs. 1 GG: „Alle Deutschen genießen<br />
Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.“<br />
8. RECHTSSTELLUNG<br />
DER FRAU<br />
Die <strong>Reformation</strong> eröffnete ganz neue Möglichkeiten<br />
für e<strong>in</strong>e Verbesserung der Rechtsstellung<br />
von Frauen, die sich an e<strong>in</strong>er rechtlich<br />
abgesicherten Mitwirkung an den Aufgaben<br />
des Geme<strong>in</strong>wesens ausdrückt. Die <strong>in</strong> den protestantischen<br />
<strong>Kirche</strong>n seit langem verwirklichte<br />
Möglichkeit, Frauen hohe <strong>Kirche</strong>nämter anzuvertrauen<br />
und ausüben zu lassen, ersche<strong>in</strong>t<br />
als avantgardistisches Pr<strong>in</strong>zip, das gewiss auf<br />
e<strong>in</strong>em reformatorischen Fundament aufruht.<br />
Vgl. Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG: „Männer und Frauen s<strong>in</strong>d<br />
gleichberechtigt.“<br />
7. AUTONOMIE<br />
Mehr oder m<strong>in</strong>der ausgestaltete Autoto<br />
nomie ist e<strong>in</strong> Kennzeichen moderner<br />
Gruppierungen mit unterschiedlichen<br />
adm<strong>in</strong>istrativen, rechtlichen, ethni schen,<br />
sprachlichen oder religiös-konfessionellen<br />
Merkmalen <strong>in</strong> den gegenwärtigen<br />
Staaten. Ausdruck e<strong>in</strong>er solchen Autonomie ist<br />
die Satzungs- und Organisationsbefugnis von<br />
Geme<strong>in</strong>den, Verbänden, Körperschaften etc.<br />
Diese wird bis heute (<strong>in</strong> Abkehr vom universalen<br />
und str<strong>in</strong>genten Geltungsanspruch zentraler<br />
Vorgaben) ausgeübt. Gerade die Neuanfänge<br />
<strong>in</strong> diese Richtung s<strong>in</strong>d bei der E<strong>in</strong>führung der<br />
<strong>Reformation</strong>, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> den Städten bezüglich<br />
des Stadtkirchen-, Schul- und Armenwesens,<br />
während des 16. Jahrhunderts ganz offensichtlich.<br />
Vgl. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG: „Den Geme<strong>in</strong>den muss das<br />
Recht gewährleistet se<strong>in</strong>, alle Angelegenheiten der örtlichen<br />
Geme<strong>in</strong>schaft im Rahmen der Gesetze <strong>in</strong> eigener<br />
Verantwortung zu regeln.“<br />
FOTOS: GETTY; CORBIS; PLAINPICTURE; I. KUZIA; SUZE, SOFA83, PÜNKTCHEN/PHOTOCASE.COM<br />
10. EHESCHEIDUNG<br />
DEM BANDE NACH<br />
Am augenfälligsten im heute geltenden Recht<br />
s<strong>in</strong>d die reformatorischen Vorstellungen von der<br />
Beendigung der Ehe durch Scheidung (dem Bande<br />
nach) mit dem Recht der Wiederverheiratung.<br />
Diese Sichtweise beruht auf der Erkenntnis, dass<br />
die Eheschließung, anders als im Mittelalter vehement<br />
praktiziert und untermauert, eben ke<strong>in</strong><br />
Sakrament ist.<br />
Auch die Form der Eheschließung durch den<br />
Konsens der Brautleute vor e<strong>in</strong>er öffentlichen<br />
Stelle (heute vor e<strong>in</strong>er Standesbeamt<strong>in</strong>/e<strong>in</strong>em<br />
Standesbeamten – „obligatorische Zivilehe“)<br />
dürfte auf den Kampf der Reformatoren gegen<br />
die „W<strong>in</strong>kelehen“ als Auswuchs des verabsolutierten<br />
römisch-kanonischrechtlichen Pr<strong>in</strong>zips<br />
„consensus facit nuptias“ zurückgehen.<br />
Vgl. § 1310 Abs. 1 Satz 1 BGB: „Die Ehe wird nur<br />
dadurch geschlossen, dass die Eheschließenden vor<br />
dem Standesbeamten erklären, die Ehe mite<strong>in</strong>ander<br />
e<strong>in</strong>gehen zu wollen.“<br />
§ 1564 Sätze 1 und 2 BGB: „E<strong>in</strong>e Ehe kann nur durch<br />
richterliche Entscheidung auf Antrag e<strong>in</strong>es oder beider<br />
Ehegatten geschieden werden. Die Ehe ist mit der<br />
Rechtskraft der Entscheidung aufgelöst.“<br />
11.<br />
ANFÄNGE DER MODERNEN<br />
GESETZGEBUNG<br />
Durch die Ablehnung der kirchlichen Gerichtsbarkeit<br />
und des kanonischen Rechts entstand<br />
auf diversen Gebieten des Alltagslebens e<strong>in</strong>e Art<br />
rechtliches Vakuum, das sich schon früher im<br />
Rahmen des vorreformatorischen <strong>Kirche</strong>nregiments<br />
angebahnt hatte („das ordnungspolitische<br />
Vakuum“). Was sollte gelten, wenn nicht (mehr)<br />
das kanonische Recht?<br />
Hier schien so etwas auf, was <strong>in</strong> der Moderne<br />
aus der Sicht des Gesetzgebers als „Regelungsbedarf“<br />
bezeichnet werden würde. Dieser Bedarf<br />
wurde im Laufe von Jahrzehnten durch <strong>Kirche</strong>nordnungen<br />
und verwandte Normensetzung seitens<br />
der Landesherren, Städten oder/und der <strong>Kirche</strong>n<br />
befriedigt. Die rationale und praktikable<br />
Reaktion auf gesellschaftliche Probleme mittels<br />
Gesetzgebung, d. h. bewusste Normensetzung <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em bestimmten Verfahren durch die dazu berufenen<br />
Autoritäten, war relativ neu. Im Mittelalter<br />
galt das Grundverständnis, dass man ke<strong>in</strong><br />
(neues) Recht setzen müsse; Recht sei vorhanden,<br />
es müsse nur gefunden werden (Konzeption des<br />
nicht schriftlichen Gewohnheitsrechts). Die <strong>Kirche</strong>nordnungen<br />
können daher auch als Anfänge<br />
e<strong>in</strong>er modernen staatlichen Gesetzgebung, die<br />
sich an gesellschaftlichen Notwendigkeiten orientiert,<br />
verstanden werden.<br />
Vgl. etwa Art. 70 ff. GG: „Die Gesetzgebung<br />
des Bundes.“<br />
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