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Reformation. Macht. Politik - Evangelische Kirche in Deutschland

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<strong>Reformation</strong><br />

ALLTAGSGESCHICHTE N⁰2<br />

VIELE wurden hier<br />

verstanden und konnten<br />

von hier aus etwas<br />

bewegen: Besucher <strong>in</strong><br />

der Nikolaikirche.<br />

Pfarrer Christian Führer<br />

bei e<strong>in</strong>er Montagsdemonstration,<br />

beides 1989.<br />

> der wöchentlichen Friedensgebete. Und das<br />

Senfkorn wuchs unaufhaltsam.<br />

Am 9. Oktober 1989, dem Tag der Entscheidung,<br />

wurde die Nikolaikirche im Verbund mit<br />

den anderen Innenstadtkirchen zum Ausgangspunkt<br />

der Demonstration der 70.000 und damit<br />

zum Ausgangspunkt der Friedlichen Revolution<br />

<strong>in</strong> der DDR. Immer wieder hatte die Bergpredigt<br />

Jesu e<strong>in</strong>e zentrale Rolle gespielt. Immer wieder,<br />

so auch an diesem Tag, die Bitte: „Lasst die Gewaltlosigkeit<br />

nicht <strong>in</strong> der <strong>Kirche</strong> stecken, nehmt<br />

sie mit h<strong>in</strong>aus auf die Straßen und Plätze!“<br />

Denn: Beten und Handeln, dr<strong>in</strong>nen und<br />

draußen, Altar und Straße gehören zusammen!<br />

So nahm e<strong>in</strong>e politische Entwicklung ihren Lauf,<br />

die es <strong>in</strong> dieser Gestalt noch nie <strong>in</strong> der deutschen<br />

Geschichte gegeben hatte: e<strong>in</strong>e Revolution ohne<br />

Blutvergießen, e<strong>in</strong>e friedliche Revolution, e<strong>in</strong>e<br />

Revolution, die aus der <strong>Kirche</strong> kam. E<strong>in</strong> Wunder<br />

biblischen Ausmaßes!<br />

So war aus der <strong>Reformation</strong> neuen Typus e<strong>in</strong>e<br />

Revolution neuen Typus herausgewachsen!<br />

Pfarrer He<strong>in</strong>rich Albertz hat das Geschehen<br />

Anfang 1990 von der Bundesrepublik her so gesehen<br />

und mir gesagt: „Zum ersten Mal <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Geschichte hat der deutsche Protestantismus<br />

auf der richtigen Seite gestanden – bei den Unterdrückten<br />

und nicht bei den Unterdrückern,<br />

beim Volk und nicht bei den Mächtigen. Hier<br />

wurden ‚politische Predigten‘ im wahrsten S<strong>in</strong>n<br />

des Wortes gehalten – e<strong>in</strong> Lehrstoff für uns, bei<br />

denen schon dieser Ausdruck verfemt ist. . . .<br />

Ja, wir haben viel zu lernen <strong>in</strong> unserem westlichen,<br />

allerchristlichsten Abendland. In e<strong>in</strong>em<br />

atheistischen Staat ist die Frohe Botschaft von<br />

Jesus Christus der Anstoß zum politischen Handeln<br />

geworden, die <strong>Kirche</strong> zum Raum der Freiheit<br />

und der Menschlichkeit. . . .<br />

Im März 1990 habe ich me<strong>in</strong>e Sicht auf die<br />

Ereignisse für die Bezirkssynode zusammen gefasst:<br />

„Die <strong>Kirche</strong> hatte zu ihrer eigentlichen Aufgabe<br />

gefunden: Nicht Hüter<strong>in</strong> der Vergangenheit,<br />

nicht Sachwalter<strong>in</strong> <strong>in</strong>nerkirchlichen Bestandes<br />

zu se<strong>in</strong>, sondern Verantwortung für alle Menschen<br />

zu übernehmen, den Menschen vom Evangelium<br />

her ganzheitlich und also auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

gesellschaftspolitischen Bezügen zu sehen und<br />

sich ihm <strong>in</strong> <strong>in</strong>nerer und äußerer Not im Namen<br />

Jesu zuzuwenden.“<br />

Bei Dietrich Bonhoeffer f<strong>in</strong>det sich dieses<br />

<strong>Kirche</strong>nverständnis <strong>in</strong> dem Begriff „<strong>Kirche</strong> für<br />

andere“ verdichtet: „Die <strong>Kirche</strong> ist nur <strong>Kirche</strong>,<br />

wenn sie für andere da ist. ... Sie muss an den<br />

weltlichen Aufgaben des menschlichen Geme<strong>in</strong>schaftslebens<br />

teilnehmen, nicht herrschend, sondern<br />

helfend und dienend.“<br />

Heute sehe ich nach wie vor als große Chance<br />

der <strong>Kirche</strong>, „offen für alle“ zu se<strong>in</strong>. Ich f<strong>in</strong>de diese<br />

Haltung verwirklicht, wo Christen und Nichtchristen<br />

um e<strong>in</strong>es konkreten Zieles willen zusammenarbeiten<br />

(„Ökumene mit den Atheisten“), wo<br />

bei Jesus Mut zur Alternative gewonnen wird für<br />

e<strong>in</strong>e solidarische Ökonomie („Anders wachsen<br />

und wirtschaften: jetzt“), <strong>in</strong> der die Jesus-Mentalität<br />

des Teilens praktiziert wird: Teilen von<br />

Bildung, Arbeit, E<strong>in</strong>kommen, Ressourcen und<br />

Wohlstand, wo der Mensch an erster Stelle steht,<br />

nicht Geld und Profit. Und wo die militärischen<br />

Konfliktlösungen von dem Bemühen um gerechten<br />

Frieden abgelöst werden.<br />

Dem Reich Gottes entgegen mit „revolutionärer<br />

Geduld“.<br />

FOTOS: GERHARD GÄBLER; JOSEF LIEDKE<br />

FOTO: BASTI ARLT<br />

„...NUR NOCH KURZ DIE WELT RETTEN“<br />

Brokdorf im Februar 1981. Wenn er daran<br />

denkt, ist er wieder zwanzig Jahre alt und<br />

mitten dr<strong>in</strong>. Er sitzt im Zug nach Itzehoe, es<br />

ist übervoll, trotzdem bleibt es eiskalt. Alle<br />

schweigen, zwischendurch fällt mal e<strong>in</strong> Wort.<br />

Die Angst kriecht ihm <strong>in</strong> die Knochen. Was er<br />

tut, ist verboten. Se<strong>in</strong>e Freunde wollten nicht<br />

mit. Sie sagten „Landfriedensbruch“ und hatten<br />

noch mehr Angst als er.<br />

Von Itzehoe geht es weiter nach Wilster. Dort<br />

ist Kundgebung. „Hier ist der Weg zum Bauzaun“,<br />

jemand zeigt über e<strong>in</strong>en Acker. „Hopp,<br />

hopp, hopp, Atomkraftwerke Stopp!“, skandieren<br />

e<strong>in</strong>ige Stimmen. Er bleibt stumm, der<br />

eisige W<strong>in</strong>d verschlägt ihm die Sprache. Er ist<br />

kraft ist Wahns<strong>in</strong>n. Wer sollte den Atommüll<br />

jahrtausendelang bewachen? Diese Technik<br />

verletzt Gottes Schöpfung.<br />

Die Sonne steigt kraftlos über den Horizont.<br />

Im Sonnenlicht bleibt alles grau-braun,<br />

die Felder hart gefroren. Überall Demonstranten<br />

und viele Polizisten. Die treten von<br />

e<strong>in</strong>em Fuß auf den anderen. H<strong>in</strong>ter den<br />

Visieren entdeckt er junge Gesichter. „Die<br />

s<strong>in</strong>d nicht viel älter als du“, denkt er, hat<br />

Mitleid mit denen und mit sich selber. Noch<br />

nie hat er sich so e<strong>in</strong>sam gefühlt wie jetzt.<br />

Mitten <strong>in</strong> der Menschenmenge ist es eiskalt.<br />

Hubschrauber donnern über die Köpfe,<br />

dann s<strong>in</strong>d da wieder nur die knirschenden<br />

rufen irgendwelche Parolen. „Ich b<strong>in</strong> machtlos“,<br />

denkt er.<br />

Abends im Zug. Frierende Frauen und Männer<br />

suchen Platz, hocken auf dem Boden.<br />

Se<strong>in</strong>e Nachbar<strong>in</strong> s<strong>in</strong>gt ganz leise: „We Shall<br />

Overcome“. Er hatte Joan Baez gehört. Die<br />

hatte diesem Lied ihre Stimme geliehen. Zum<br />

ersten Mal am Tag spürt er etwas Wärme.<br />

„We are not afraid“, hört er. Die stundenlange<br />

Demonstration hatte ihn zermürbt. Jetzt<br />

wird die Angst aufgelöst. Das „We Shall Overcome“<br />

wirkt wie die Glut e<strong>in</strong>es alten Feuers,<br />

sie taut die erstarrte Hoffnung auf. Seltsam:<br />

Nicht die Kälte, sondern diese Wärme spürt<br />

er heute, wenn er an den Februar 1981 denkt.<br />

Christ, darum wollte er hier dabei se<strong>in</strong>. Atom­<br />

Geräusche der Schritte. E<strong>in</strong>zelne Stimmen <br />

VON HENNING KIENE<br />

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25

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