Reformation. Macht. Politik - Evangelische Kirche in Deutschland
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POLITIK POLITIK<br />
SCHLECHT VORBEREITET<br />
Kopftuch, Beschneidung, Islamunterricht? Die Kopf-<strong>in</strong>-den-Sand-Religionspolitik der Vergangenheit<br />
sorgte dafür, dass wir <strong>in</strong> diese Debatten ziemlich unbedarft h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>stolpern VON ULRICH WILLEMS<br />
PROF. DR. ULRICH<br />
WILLEMS ist Professor<br />
für <strong>Politik</strong>wissenschaft<br />
im Exzellenzcluster<br />
„Religion und <strong>Politik</strong>“ an<br />
der Universität Münster.<br />
D<br />
ie deutsche Religionspolitik ist gegenwärtig<br />
vor erhebliche Herausforderungen<br />
gestellt. Wie der Generationenvertrag<br />
als grundlegendes Pr<strong>in</strong>zip der<br />
Alterssicherung durch die demographische Entwicklung,<br />
so ist auch die spezifische kooperative<br />
Ausgestaltung der religionspolitischen Ordnung<br />
<strong>in</strong> der Bundesrepublik durch e<strong>in</strong>e ganze Reihe<br />
gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen<br />
unter Druck geraten. Und wie im Fall der<br />
Alterssicherung, so trägt auch im Fall der religionspolitischen<br />
Ordnung die <strong>Politik</strong> durch die<br />
langjährige und anhaltende Vernachlässigung<br />
e<strong>in</strong> erhebliches Maß an Verantwortung für den<br />
gegenwärtigen Problemdruck.<br />
Zu den gesellschaftlichen und politischen<br />
Entwicklungen, die die deutsche Religionspolitik<br />
derzeit vor erhebliche Herausforderungen<br />
FOTO: GENTSCH/DPA, BRIGITTE HEEKE<br />
UND PLÖTZLICH IST<br />
ES ALLTAG: Muslim<strong>in</strong><br />
mit Kommilitonen<br />
<strong>in</strong> der Bibliothek der<br />
Universität Osnabrück.<br />
Das dortige Institut für<br />
islamische Theologie<br />
nahm zum W<strong>in</strong>tersemester<br />
2012 se<strong>in</strong>en<br />
Betrieb auf.<br />
stellt, zählt neben der religiösen Individualisierung<br />
und der umfassenden politischen Durchdr<strong>in</strong>gung<br />
aller Lebensbereiche vor allem die Pluralisierung<br />
der religiösen Landschaft. Während<br />
die beiden großen christlichen <strong>Kirche</strong>n seit den<br />
1960er Jahren beständig Mitglieder verlieren,<br />
ist die Zahl der Konfessionslosen und religiöser<br />
M<strong>in</strong>derheiten, allen voran der Islam, ebenso<br />
kont<strong>in</strong>uierlich gewachsen. Die Herausforderungen,<br />
die aus dieser gesellschaftlichen und<br />
politischen Entwicklung resultieren, lassen sich<br />
besonders deutlich am Umgang mit dem Islam<br />
aufzeigen.<br />
Die Muslime haben seit den 1990er Jahren<br />
zu Recht begonnen, ihr von der Verfassung gewährtes<br />
Recht auf gleiche Religionsfreiheit offensiv<br />
politisch e<strong>in</strong>zufordern. Das hat zu e<strong>in</strong>er<br />
Vielzahl von Konflikten über islamischen Religionsunterricht<br />
an den Schulen, Moscheebau,<br />
Kopftuch, Schächten usw. geführt.<br />
Diese Konflikte haben ihre Ursache zum e<strong>in</strong>en<br />
<strong>in</strong> der religionspolitischen Ordnung selbst. Sie ist<br />
zunächst dadurch geprägt, dass sie vor allem <strong>in</strong><br />
ihren praktischen Regelungen für e<strong>in</strong>e mehrheitlich<br />
christliche Gesellschaft entworfen wurde. So<br />
setzt etwa das Angebot des Religionsunterrichtes<br />
an öffentlichen Schulen voraus, dass die betreffenden<br />
Religionsgeme<strong>in</strong>schaften über identifizierbare<br />
Mitglieder sowie Strukturen und Verfahren<br />
für die Festlegung der zu vermittelnden<br />
Glaubens<strong>in</strong>halte verfügen – zwei Bed<strong>in</strong>gungen,<br />
die der Islam nicht ohne Weiteres erfüllen kann.<br />
Die religionspolitische Ordnung ist <strong>in</strong> der Frühphase<br />
der Bundesrepublik auf Länderebene aber<br />
vielfach bewusst auch so gestaltet worden, dass<br />
sie den beiden großen christlichen <strong>Kirche</strong>n e<strong>in</strong>en<br />
möglichst großen Handlungsspielraum<br />
für e<strong>in</strong>e christliche Prägung<br />
der Gesellschaft eröffnet, vor allem<br />
mit Blick auf die Schule und soziale<br />
E<strong>in</strong>richtungen wie K<strong>in</strong>dergärten,<br />
Krankenhäuser und Altersheime.<br />
Wenn jedoch die überwiegende Zahl sozialer E<strong>in</strong>richtungen<br />
von christlichen Trägern betrieben<br />
wird, fehlt e<strong>in</strong> ausreichendes Angebot für konfessionslose<br />
und nicht-christliche M<strong>in</strong>derheiten<br />
– das gilt für die Beschäftigen wie die Klienten<br />
solcher E<strong>in</strong>richtungen.<br />
Diese Konflikte haben ihre Ursache zum anderen<br />
aber auch <strong>in</strong> den wechselseitigen Wahrnehmungen<br />
von religiösen und nichtreligiösen<br />
Mehrheiten und M<strong>in</strong>derheiten. Von der christlichen<br />
und konfessionslosen Bevölkerungsmehrheit<br />
werden die Forderungen religiöser M<strong>in</strong>derheiten<br />
nach gleicher Religionsfreiheit vielfach<br />
als Durchsetzung spezifischer Interessen, als<br />
Ausdruck mangelnden Respekts vor den mehrheitskulturellen<br />
Traditionen, als Gefährdung der<br />
Säkularität des Staates oder als Bedrohung zentraler<br />
Werte wie etwa des Pr<strong>in</strong>zips der Gleichheit<br />
der Geschlechter wahrgenommen. Das hat sich<br />
zuletzt deutlich <strong>in</strong> der übergroßen Ablehnung e<strong>in</strong>er<br />
gesetzlichen Zulassung der Beschneidung gezeigt.<br />
Von den nicht-christlichen M<strong>in</strong>derheiten<br />
werden diese E<strong>in</strong>stellungen und Haltungen vielfach<br />
als Ausdruck der Durchsetzung mehrheitskultureller<br />
Traditionen und als Verweigerung ihrer<br />
Anerkennung als gleiche Bürger mit gleichen<br />
Rechten betrachtet.<br />
Die <strong>Politik</strong> trägt durch die langjährige und<br />
anhaltende Vernachlässigung der Religionspolitik<br />
e<strong>in</strong> erhebliches Maß an Verantwortung<br />
für den gegenwärtigen Problemdruck. Lange<br />
Zeit wurde die Bundesrepublik von Teilen der<br />
politischen Elite nicht als E<strong>in</strong>wanderungsland<br />
„KEIN<br />
EINWANDERUNGS-<br />
LAND – KEINE<br />
REFORMEN“<br />
betrachtet, was demgemäß auch ke<strong>in</strong>e Reformen<br />
der religionspolitischen Ordnung nötig machte.<br />
Zudem s<strong>in</strong>d die Forderungen nach islamischen<br />
Religionsunterricht und se<strong>in</strong>er Voraussetzungen<br />
<strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er Ausbildung islamischer Lehrer<strong>in</strong>nen<br />
und Lehrer an den Hochschulen auf adm<strong>in</strong>istrativer<br />
Seite über be<strong>in</strong>ahe 20 Jahre nicht<br />
gerade befördert worden. Hier lassen sich erst<br />
jüngst erste Fortschritte erkennen.<br />
Aber auch für die problematischen Wahrnehmungen<br />
der Herausforderungen religiöser Pluralität<br />
<strong>in</strong> der Bevölkerung trägt die <strong>Politik</strong> e<strong>in</strong> gerüttelt<br />
Maß an Verantwortung. Religionspolitik<br />
war traditionell e<strong>in</strong> Gestaltungsfeld politischer<br />
Eliten und von Gerichten. Es ist daher alles andere<br />
als verwunderlich, dass die <strong>Politik</strong> es versäumt<br />
hat, die Fragen des Umgangs mit der gewachsenen<br />
religiösen Pluralität zum Gegenstand e<strong>in</strong>er<br />
öffentlichen Debatte zu machen.<br />
Das ist allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> Problem,<br />
weil jeder Versuch e<strong>in</strong>er Reform<br />
der religionspolitischen Ordnung<br />
mit Blick auf die gewachsene religiöse<br />
Pluralität zu schwierigen<br />
Abwägungsprozessen zwischen positiver und<br />
negativer Religionsfreiheit, den Interessen religiöser<br />
und kultureller Mehrheiten und M<strong>in</strong>derheiten<br />
sowie den wechselseitigen Ansprüchen auf<br />
Anerkennung führen wird. Diese Abwägungsprozesse<br />
werden aber nur dann gel<strong>in</strong>gen, wenn<br />
auf Seiten der Bevölkerung das Verständnis für<br />
die berechtigten Ansprüche von religiösen wie<br />
nichtreligiösen Mehrheiten und M<strong>in</strong>derheiten<br />
entsteht, aber auch die Fähigkeit wächst, über<br />
die Berechtigung solcher Ansprüche <strong>in</strong>formiert<br />
zu streiten. Das aber erfordert e<strong>in</strong>e öffentliche<br />
Debatte über die Religionspolitik. Die vom ehemaligen<br />
Innenm<strong>in</strong>ister Schäuble e<strong>in</strong>gerichtete<br />
Islamkonferenz war trotz aller Konstruktionsprobleme<br />
e<strong>in</strong> richtiger Schritt <strong>in</strong> diese Richtung,<br />
nicht zuletzt angesichts des großen Medienechos,<br />
das diese Initiative fand. Aber das mangelnde Interesse<br />
und Engagement des jetzigen Innenm<strong>in</strong>isters<br />
hat diesen Impuls schon wieder zum Erliegen<br />
gebracht. Andere Länder haben bessere Wege<br />
gewählt. E<strong>in</strong> Beispiel ist die von der kanadischen<br />
Prov<strong>in</strong>z Quebec e<strong>in</strong>gerichtete Kommission unter<br />
Leitung der Philosophen Gérard Bouchard<br />
und Charles Taylor zur Frage des Umgangs mit<br />
religiöser und kultureller Pluralität, die auf der<br />
Basis landesweiter Diskussionsprozesse e<strong>in</strong>e umfassende<br />
Problemanalyse unternahm. Ihre Analysen<br />
und Vorschläge s<strong>in</strong>d 2008 unter dem Titel<br />
„Build<strong>in</strong>g the Future. A time for reconciliation“<br />
erschienen. Die deutsche <strong>Politik</strong> wäre gut beraten,<br />
e<strong>in</strong>en ähnlichen Beratungs- und Diskussionsprozess<br />
<strong>in</strong> die Wege zu leiten.<br />
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