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Reformation. Macht. Politik - Evangelische Kirche in Deutschland

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MACHT MACHT<br />

Und was ich glaube, ist ganz unverstanden,<br />

das Sterben zweier Störche im November,<br />

die nie die Kraft für ihren Heimflug fanden,<br />

nie den Inst<strong>in</strong>kt. Ich habe e<strong>in</strong> Geländer,<br />

das ich mir selber halte, es ist fest.<br />

Ich folge Spuren, die sich schnell verlaufen,<br />

auf e<strong>in</strong>em Pfahl am Weg e<strong>in</strong> leeres Nest,<br />

das liegen bleibt, und warme Federhaufen.<br />

30. November 2008, Wittenberg<br />

alte Bedeutung mit. Dadurch hat die Metapher<br />

die Eigenschaft, Neues sagen zu können. Sich also<br />

<strong>in</strong> etwas h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> bewegen zu können, wofür es<br />

noch ke<strong>in</strong>e Worte gibt“, erklärt er.<br />

Lehnert arbeitet mit Andeutungen und Stimmungen<br />

und verwendet e<strong>in</strong>e Sprache, die e<strong>in</strong>en<br />

sehr „tiefen Er<strong>in</strong>nerungs- und Erlebnisraum“<br />

hat, wie er sagt. „Das Gedicht verwendet <strong>in</strong> aller<br />

Regel Sprache, wo im e<strong>in</strong>zelnen Segment sehr viel<br />

mitschw<strong>in</strong>gt, wo jede e<strong>in</strong>zelne Wortverb<strong>in</strong>dung<br />

viel Erlebnisraum hat. Die Sprachwissenschaft<br />

sagt dazu Konnotation. Das Gedicht arbeitet mit<br />

Worten, die man mit D<strong>in</strong>gen verb<strong>in</strong>det.“<br />

STILLE ALS<br />

OFFENER RAUM<br />

Gedankliche Räume und spürbar gemachte Stille<br />

lassen sich <strong>in</strong> vielen se<strong>in</strong>er Gedichte erkennen,<br />

etwa <strong>in</strong> den Texten aus „Der Augen Aufgang“<br />

(2000) und „Aufkommender Atem“ (2011). Doch<br />

wie kann Stille mit den Mitteln des Wortes beschrieben<br />

werden? Lehnert erklärt die Arbeitsweise<br />

für e<strong>in</strong>en sche<strong>in</strong>bar paradoxen Auftrag:<br />

„Ich kann Gedichte dorth<strong>in</strong> führen, wo die Sprache<br />

ganz leise wird. Stille lässt sich im Gedicht<br />

<strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne erzeugen, dass e<strong>in</strong> Wort um sich<br />

herum e<strong>in</strong>en offenen Raum hat“, sagt er. „Es<br />

steht da für sich, hat ke<strong>in</strong>en grammatikalischen,<br />

ke<strong>in</strong>en syntaktischen Bezug. Es ist zwar völlig<br />

zw<strong>in</strong>gend, dass es dort <strong>in</strong> dem Text steht, aber<br />

es führt den Leser dazu, zu fragen: ‚Warum steht<br />

das Wort jetzt hier?‘ Da entsteht so etwas wie e<strong>in</strong><br />

stiller Raum.“<br />

Was er damit me<strong>in</strong>t, erläutert Lehnert an se<strong>in</strong>em<br />

Gedicht „Und was ich glaube, ist ganz unverstanden“<br />

(siehe Abbildung S. 50). Der Text operiert<br />

gezielt mit e<strong>in</strong>er Lücke zwischen dem Titel und<br />

den folgenden Zeilen. Zwischen den beiden Bildern<br />

entsteht e<strong>in</strong> Raum, und dieser Raum ist leer<br />

und still und knistert von Spannung“, erläutert<br />

der Dichter.<br />

ANGEDEUTETER<br />

ABGRUND<br />

E<strong>in</strong>e andere Form, im Gedicht Stille zu erzeugen,<br />

f<strong>in</strong>det Lehnert bei Paul Celan. „Celan<br />

macht das manchmal mit nur zwei Worten.“<br />

Er führe den Leser an den Abgrund e<strong>in</strong>er Geschichte.<br />

Der Leser erwarte „den Auftakt zu e<strong>in</strong>er<br />

Erzählung, e<strong>in</strong>em mehrbändigen Roman, es<br />

passiert aber nichts. Es bleibt nur bei den beiden<br />

Worten.“ So kann e<strong>in</strong> Gedicht Stille und Raum<br />

erzeugen, sagt Lehnert. „Das ist natürlich ke<strong>in</strong>e<br />

absolute Stille, sondern e<strong>in</strong>e Stille im Angesicht<br />

der Möglichkeiten – die Stille der Schöpfungsfrühe.“<br />

Christian Lehnert, der Dichter und Theologe,<br />

will, dass se<strong>in</strong>e Texte vorbehaltlos gelesen<br />

werden. Viel zu oft klebe an ihm das Etikett<br />

„Achtung, religiöser Dichter!“, glaubt er. Und<br />

dies schränke das Wahrnehmungsspektrum der<br />

Leser e<strong>in</strong>. Gleichzeitig hofft er, dass se<strong>in</strong>e Texte<br />

stark genug s<strong>in</strong>d, um aus der Schublade herauszukommen<br />

und als das wahrgenommen zu werden,<br />

was sie s<strong>in</strong>d: Der sprachliche Versuch, dem<br />

Unsagbaren näher zu kommen.<br />

Die losen Fäden, die sich um mich legen,<br />

wie Sp<strong>in</strong>nenhaar, die vielen klaren Sätze,<br />

die Zähne auf dem Berg und <strong>in</strong> Gelegen<br />

die Zeit, die ich im Sturzgefälle schätze,<br />

> Lyrik, die e<strong>in</strong>fach nicht den ästhetischen und<br />

handwerklichen Maßstäben zeitgenössischer Literatur<br />

entspricht“, sagt er. Diese Texte arbeiteten<br />

mit der Ästhetik der Bestätigung. „Der Leser bekommt<br />

etwas, dass er bereits weiß oder glaubt, <strong>in</strong><br />

schönen Worten bestätigt. Er sitzt da und denkt<br />

sich „schön gesagt“, kritisiert er.<br />

Wirklich <strong>in</strong> die Tiefe gehende Lyrik muss den<br />

Leser dagegen auch verstören, me<strong>in</strong>t Lehnert.<br />

„Sie muss ihn <strong>in</strong> die Fremde führen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

neuen und unbekannten Raum. Dah<strong>in</strong>, wo er<br />

auch erschrickt und sich vielleicht auch nicht<br />

so wohlfühlt.“ Erbauungsliteratur verniedliche<br />

stattdessen und schneide Dimensionen des<br />

christlichen Glaubens weg.<br />

WORTE FÜR<br />

DAS UNSAGBARE<br />

Lehnert spielt mit der Sprache, verändert Grammatik<br />

und Satzbau, setzt die e<strong>in</strong>zelnen Fragmente<br />

neu zusammen. Und er fängt an, Worte für das<br />

Unsagbare zu suchen. Dafür nutzt er verschiedene<br />

Techniken: „Die zentrale Form ist die Metapher.<br />

Sie überträgt e<strong>in</strong> Element aus e<strong>in</strong>em bekannten<br />

sprachlichen Zusammenhang <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Anderen,<br />

komb<strong>in</strong>iert den und nimmt gewissermaßen die<br />

FOTOS: CONTRASTO/LAIF; KRUSE/OSTKREUZ<br />

GEDICHTE: „UND WAS ICH GLAUBE, IST GANZ UNVER-<br />

STANDEN“, „DIE LOSEN FÄDEN, DIE SICH UM MICH<br />

LEGEN“, AUS: CHRISTIAN LEHNERT, AUFKOMMENDER<br />

ATEM. GEDICHTE. © SUHRKAMP VERLAG BERLIN 2011.<br />

bezeugen all das Ungesagte, Fremde,<br />

durch das ich ziehe, lalle, ohne Stand,<br />

an blanken Rohren wärm ich mir die Hände<br />

und male Gott an jede leere Wand.<br />

12. Januar 2009, Wittenberg<br />

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