Reformation. Macht. Politik - Evangelische Kirche in Deutschland
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MACHT MACHT<br />
NICHT ALLEINE<br />
IN DER WELT<br />
Lesenswert: John Howard Yoder wagte<br />
e<strong>in</strong>e Annäherung an e<strong>in</strong>e politische Ethik Jesu<br />
DR. ROGER MIELKE,<br />
ist Oberkirchenrat,<br />
Referent für Fragen der<br />
öffentlichen Verantwortung<br />
der <strong>Kirche</strong> im<br />
<strong>Kirche</strong>namt der EKD.<br />
VON ROGER MIELKE<br />
D<br />
ie <strong>Kirche</strong>n der <strong>Reformation</strong> waren über<br />
Jahrhunderte ausgesprochen staatsnah.<br />
Das gilt für nahezu alle lutherischen und<br />
für viele reformierte <strong>Kirche</strong>n, nicht aber für den<br />
sogenannten „l<strong>in</strong>ken Flügel“ der <strong>Reformation</strong>.<br />
Damit s<strong>in</strong>d die aus der Täuferbewegung der<br />
<strong>Reformation</strong>szeit hervorgegangen Geme<strong>in</strong>den<br />
geme<strong>in</strong>t mitsamt ihren vielen bis <strong>in</strong> die Gegenwart<br />
reichenden Geme<strong>in</strong>schaftsbildungen. Vom<br />
„l<strong>in</strong>ken Flügel“ spricht man hier, weil diese Geme<strong>in</strong>schaften<br />
e<strong>in</strong>erseits ausgesprochen kritisch<br />
gegenüber der staatlichen Autorität waren und<br />
andererseits nach <strong>in</strong>nen h<strong>in</strong> wenig hierarchisch<br />
verfasst waren (und s<strong>in</strong>d). Sie wollten sich deutlich<br />
unterscheiden von e<strong>in</strong>em staats- und machtnahen<br />
Christentum. Der Gefahr, zur „Sekte“ zu<br />
werden, ist man dabei nicht immer entgangen.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs haben sich die meisten Gruppen e<strong>in</strong><br />
sehr lebendiges Gefühl für Differenz und Pluralität<br />
erhalten, das sich unter gegenwärtigen Bed<strong>in</strong>gungen<br />
e<strong>in</strong>es durchgehenden Pluralismus sehr<br />
modern ausnimmt. Zwei Grundannahmen prägen<br />
die Theologie der täuferischen Geme<strong>in</strong>schaften.<br />
Die erste Grundannahme besagt, dass sich<br />
Glaube nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er persönlichen Entscheidung<br />
äußert. Die zweite Grundannahme – nur auf den<br />
ersten Blick <strong>in</strong> Widerspruch zur ersten – me<strong>in</strong>t,<br />
dass Gott e<strong>in</strong> neues Volk beruft, das als Geme<strong>in</strong>schaft<br />
<strong>in</strong> der alten, vergehenden Welt lebt.<br />
Die erste Grundannahme drückt e<strong>in</strong>en hohen<br />
FOTO: SCHULZE/EPD<br />
JESUS-FREAKS<br />
auf dem Freakstock-<br />
Festival im August<br />
2012 <strong>in</strong> Borgentreich/<br />
Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen<br />
Respekt vor Würde und Freiheit<br />
des e<strong>in</strong>zelnen Menschen aus, die<br />
zweite macht fähig, als Community<br />
<strong>in</strong>nerhalb anderer unterschiedener<br />
Geme<strong>in</strong>schaften zu leben.<br />
In diesem Traditionsstrom<br />
steht das bedeutende Werk des<br />
amerikanischen mennonitischen<br />
Theologen John Howard Yoder<br />
(1927-1997). In der englischsprachigen<br />
Welt gehören se<strong>in</strong>e Bücher<br />
zu den wichtigsten des 20. Jahrhunderts,<br />
<strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> allerd<strong>in</strong>gs<br />
s<strong>in</strong>d sie wenig bekannt. In<br />
se<strong>in</strong>em wohl am weitesten verbreiteten<br />
Werk „Die <strong>Politik</strong><br />
Jesu“ („The Politics of<br />
Jesus“, 1972) wendet<br />
sich Yoder gegen das <strong>in</strong><br />
der evangelischen Ethik<br />
weit verbreitete Vorurteil,<br />
dass vom Weg und<br />
von der Person Jesu her<br />
ke<strong>in</strong>e politische Ethik,<br />
ke<strong>in</strong>e Ethik des Sozialen<br />
für komplexe moderne<br />
Gesellschaften<br />
möglich sei. Wenn Yoder<br />
das Neue Testament<br />
auslegt (übrigens vollkommen<br />
ohne fundamentalistische<br />
Untertöne),<br />
dann beschreibt er<br />
das Gegenteil: Jesus ruft Menschen, mit ihm zu<br />
gehen, ihm <strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>schaft „nachzufolgen“. Jesus<br />
übt mit se<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaft neue Regeln des<br />
Zusammenlebens e<strong>in</strong>. Diese Geme<strong>in</strong>schaft stellt<br />
sich nach Yoder mitten <strong>in</strong> die politischen und sozialen<br />
Gegensätze der antiken Welt und steht für<br />
e<strong>in</strong> neues Lebensmodell von Partizipation, Gerechtigkeit<br />
und Gewaltfreiheit, das zutiefst anziehend<br />
wirkt. Wo <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er „messianischen Ethik<br />
des anbrechenden Gottesreiches“ Jesus selbst als<br />
ethisches Modell gesehen wird, dort entfaltet sich<br />
nach Yoder die verwandelnde Kraft des Lebens<br />
mit Jesus als e<strong>in</strong>e erneuerte politische Praxis der<br />
von ihm geprägten Geme<strong>in</strong>schaft (so im Buch<br />
„Body Politics“ von 1992). Die geistlichen Kernpraktiken<br />
der <strong>Kirche</strong> nehmen die elementaren<br />
politischen Fragen auf, die bis heute gleich geblieben<br />
s<strong>in</strong>d: <strong>in</strong> der Taufe werden die ethnischen<br />
Gegensätze überwunden; im Abendmahl werden<br />
die materiellen Ressourcen geteilt; im B<strong>in</strong>den<br />
und Lösen entsteht e<strong>in</strong>e Konfliktkultur; <strong>in</strong><br />
der Vielfalt der Gaben des Heiligen Geistes wird<br />
e<strong>in</strong>e partizipatorische politische Praxis e<strong>in</strong>geübt.<br />
Dies lebt davon, dass mit dem Tod und der<br />
Auferstehung Christi die zerstörerischen Mächte<br />
entfesselter Gewalt überwunden s<strong>in</strong>d und e<strong>in</strong><br />
neuer Weg des gewaltfreien Widerstands möglich<br />
wird, der Verhältnisse von <strong>in</strong>nen her verändert.<br />
Alles hängt, so Yoder, daran, dass die<br />
<strong>Kirche</strong> diese politische Dimension ihres Se<strong>in</strong>s<br />
erkennt, <strong>in</strong> der pluralistischen<br />
Arena des Politischen kenntlich<br />
macht und <strong>in</strong> ihrer Geme<strong>in</strong>schaft<br />
aus dieser Quelle und nach deren<br />
Maß stäben lebt.<br />
Yoder br<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Werk<br />
die lange geistliche Praxis der<br />
Friedenskirchen <strong>in</strong> die gegenwärtigen<br />
Prozesse der Transformation<br />
des Politischen e<strong>in</strong>. Er beschreibt,<br />
welche Rolle die Christen und die<br />
<strong>Kirche</strong>n <strong>in</strong> diesen Prozessen spielen<br />
könnten, wenn sie selbst zur<br />
Erneuerung nach dem Bild des<br />
Evange liums von Jesus Christus<br />
bereit s<strong>in</strong>d. Im Gestaltwandel der<br />
Volkskirchen zu differenzfähigen<br />
und differenzsensiblen M<strong>in</strong>derheitenkirchen<br />
wäre von Yoder Entscheidendes<br />
zu lernen über die politische Rolle der Christen<br />
zwischen liberaler Zeitgeistverstärkung e<strong>in</strong>erseits<br />
und der Versuchung zu reaktionärem Traditionalismus<br />
andererseits. Politische Praxis der<br />
<strong>Kirche</strong> ist – <strong>in</strong> Yoders eigenen Worten – „mehr<br />
als Individualismus plus Gesellschaftsvertrag auf<br />
der e<strong>in</strong>en Seite oder Korporatismus und Subsidiarität<br />
auf der anderen.“ In diesem „Zwischenraum“<br />
könnten und müssten die <strong>Kirche</strong>n der <strong>Reformation</strong><br />
heute politische Akteure se<strong>in</strong>.<br />
JOHN HOWARD<br />
YODER (1927-1997),<br />
bedeutender<br />
mennonitischer<br />
Theologe, me<strong>in</strong>te:<br />
Christliche Geme<strong>in</strong>schaften<br />
könnten<br />
und müssten als<br />
politische Akteure<br />
auftreten.<br />
NACHLESEN BEI JOHN HOWARD YODER:<br />
Die <strong>Politik</strong> des Leibes Christi. Als Geme<strong>in</strong>de zeichenhaft<br />
leben, Schwarzenfeld 2011<br />
Die <strong>Politik</strong> Jesu, Schwarzenfeld 2012<br />
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