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Reformation. Macht. Politik - Evangelische Kirche in Deutschland

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MACHT<br />

EINE<br />

FÜR<br />

VIELE<br />

Die Rolle der<br />

christlichen <strong>Kirche</strong>n <strong>in</strong><br />

der Öffentlichkeit<br />

VON JUDITH KÖNEMANN<br />

E<br />

s ist e<strong>in</strong> genu<strong>in</strong>es Charakteristikum der<br />

christlichen Religion, e<strong>in</strong>e öffentliche Religion<br />

zu se<strong>in</strong> und aus ihrem Selbstverständnis<br />

heraus den Anspruch zu vertreten, die<br />

Welt <strong>in</strong> <strong>Politik</strong> und Gesellschaft mitzugestalten.<br />

Unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bed<strong>in</strong>gungen<br />

von (religiöser) Pluralisierung und<br />

Individualisierung s<strong>in</strong>d die <strong>Kirche</strong>n mehr denn<br />

je auch Interessensvertreter für ihre eigenen<br />

Belange, vor allem aber auch für die Wahrnehmung<br />

ihrer (religiösen) Überzeugungen <strong>in</strong> der<br />

gesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeit.<br />

Zwar wird die Rolle der christlichen <strong>Kirche</strong>n <strong>in</strong><br />

der Öffentlichkeit immer wieder diskutiert, bis<br />

heute lässt sich jedoch feststellen, dass die Präsenz<br />

und die Interessenvertretung der <strong>Kirche</strong>n <strong>in</strong><br />

<strong>Politik</strong> und Öffentlichkeit nach wie vor sehr hoch<br />

ist. Wie dies von den <strong>Kirche</strong>n umgesetzt und vermittelt<br />

wird, soll im Folgenden am Beispiel der<br />

langjährigen Ause<strong>in</strong>andersetzungen über Integration,<br />

Asyl und Zuwanderung aufgezeigt werden.<br />

Denn an dieser Debatte lässt sich beispielhaft<br />

zeigen, wie sehr sich die <strong>Kirche</strong>n konstant<br />

an öffentlichen Disputen beteiligen, und wie die<br />

FOTO: GETTY, SARAH BATELKA<br />

Beteiligung der <strong>Kirche</strong>n am politischen Prozess,<br />

häufig im Umfeld von Gesetzgebungsverfahren,<br />

ausgerichtet ist.<br />

Neben der beständigen Beteiligung am öffentlichen<br />

Diskurs über Stellungnahmen wurden<br />

die <strong>Kirche</strong>n punktuell bei bestimmten Gesetzesformulierungen<br />

auch <strong>in</strong> den politischen Prozess<br />

direkt e<strong>in</strong>gebunden, so z.B. die evangelische <strong>Kirche</strong><br />

durch ihre Mitarbeit <strong>in</strong> der „Unabhängige(n)<br />

Kommission Zuwanderung“, die den Auftrag<br />

hatte, Empfehlungen für e<strong>in</strong>en gesamtgesellschaftlich<br />

konsensfähigen Gesetzesentwurf zu<br />

erarbeiten. Neben dieser unmittelbaren E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung<br />

haben die <strong>Kirche</strong>n auch immer wieder<br />

spezifische Schwerpunktthemen <strong>in</strong> die Debatte<br />

e<strong>in</strong>gebracht und diese damit fokussiert, so zum<br />

Beispiel die evangelische <strong>Kirche</strong><br />

„<br />

DIE KIRCHE<br />

TRITT ALS AN­<br />

WÄLTIN FÜR<br />

MIGRANTEN<br />

EIN.<br />

“<br />

<strong>in</strong> den 80er Jahren durch die Forderung<br />

e<strong>in</strong>er notwendigen Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

mit zunehmender<br />

Fremdenfe<strong>in</strong>dlichkeit und die Anerkennung<br />

der Notwendigkeit von<br />

Integration und entsprechender<br />

Möglichkeiten dazu oder die im<br />

Laufe der Jahre zunehmende positive<br />

Anerkennung von Pluralität<br />

für e<strong>in</strong> gel<strong>in</strong>gendes Zusammenleben<br />

von Menschen mit unterschiedlichen Kulturen.<br />

So zum Beispiel Präses Manfred Kock 2001<br />

im Rahmen der Zuwanderungsdebatte: „Wir<br />

brauchen e<strong>in</strong> Gesellschafts- und Staatsverständnis,<br />

das der Realität e<strong>in</strong>er ethnisch, kulturell und<br />

religiös vielfältiger gewordenen Gesellschaft entspricht.<br />

(…) Zugewanderte müssen zu mitgestaltenden,<br />

mittragenden Teilen unserer Gesellschaft<br />

werden. Integration ist e<strong>in</strong> Prozess, der auf Gegenseitigkeit<br />

und Vertrauensbildung angewiesen<br />

ist. Die <strong>Kirche</strong>n s<strong>in</strong>d aktiv, um Zusammenleben<br />

zu gestalten und Verständnis zu fördern.“ Nach<br />

dem 11. September 2001 machte die evangelische<br />

<strong>Kirche</strong> auch früh auf die notwendige Reflexion<br />

des Themas Religion und der öffentlichen Rolle<br />

von Religion(en) und deren Anerkennung im<br />

Kontext gesellschaftlichen Zusammenlebens<br />

aufmerksam: „Die Religionszugehörigkeit ist e<strong>in</strong><br />

wichtiger Integrationsfaktor, der im Integrationsprozess<br />

besondere Antworten und Berücksichtigung<br />

f<strong>in</strong>den muss. (…) Denn unbeschadet<br />

der verbürgten Freiheit persönlicher religiöser<br />

Überzeugungen ist die öffentliche Präsenz von<br />

Religionen manchmal Anlass für Kontroversen.<br />

(…) Der E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es islamischen Religionsunterrichts<br />

an öffentlichen Schulen nach Art.<br />

7 Abs. 3 GG kommt e<strong>in</strong>e besondere <strong>in</strong>tegrationspolitische<br />

Bedeutung zu.“<br />

Inhaltlich positioniert sich die <strong>Kirche</strong> sowohl<br />

mit religiösen wie auch nicht-religiösen Argumentationen;<br />

entgegen der vielleicht verbreiteten<br />

Annahme, dass die religiösen Argumente und<br />

Bezüge überwiegen, zeigen die Analysen, dass<br />

die Argumentationen ausgesprochen anlass- und<br />

diskursbezogen s<strong>in</strong>d und sich somit vielfach auch<br />

im Bereich des säkularen Expertenwissens bewegen.<br />

Gleichwohl vertritt die <strong>Kirche</strong> klar ihre Positionen<br />

und Interessen <strong>in</strong> den Debatten und wird<br />

mit ihrer klaren Option für den Anderen, den<br />

Fremden, und für Integration kenntlich, ebenso<br />

mit ihrer Forderung nach der Wahrung der<br />

Rechte der Migrant<strong>in</strong>nen und vor allem mit der<br />

Forderung nach dem Recht auf Familienzusammenführung.<br />

Alle drei Optionen werden auch je<br />

nach Anlass und Zielgruppe religiös begründet,<br />

zum Beispiel auf folgende Weise: „Migration und<br />

Fremdheit gehören zu den Grunderfahrungen<br />

des Glaubens. Diese<br />

wesensmäßige Nähe zu Fremden<br />

verpflichtet die <strong>Kirche</strong>n zur Solidarität<br />

mit den Migrant<strong>in</strong>nen und<br />

Migranten.“ So tritt die <strong>Kirche</strong><br />

– auch <strong>in</strong> ihrem Selbstverständnis<br />

– als öffentliche Anwält<strong>in</strong> für<br />

Migrant<strong>in</strong>nen und deren Rechte<br />

wie <strong>in</strong>sgesamt für Humanität<br />

e<strong>in</strong>: „Humanitäre Verpflichtungen<br />

s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Verhandlungssache, sondern moralisch<br />

und politisch unabd<strong>in</strong>gbar.“ Es wird aber<br />

auch die Rolle der Expert<strong>in</strong> e<strong>in</strong>genommen, wenn<br />

beispielsweise populistische Argumente wie die<br />

Rede von der drohenden Überfremdung bereits<br />

Mitte der 80er Jahre durch die sachliche Expertise<br />

e<strong>in</strong>er von der <strong>Kirche</strong> e<strong>in</strong>gesetzten Expertenkommission<br />

entkräftet wurden. Die Debatte über<br />

die Rolle der Religion <strong>in</strong> der Gesellschaft nach<br />

dem 11. September wurde auch zum Anlass zur<br />

Selbstreflexion, wenn etwa die <strong>Kirche</strong> angesichts<br />

der zunehmenden Zahl von Muslimen und damit<br />

e<strong>in</strong>er steigenden Präsenz des Islams <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong><br />

auch ihre eigene Rolle und die Position<br />

christlicher Religion <strong>in</strong> der Gesellschaft reflektiert<br />

und dabei die Anerkenntnis von Pluralität<br />

anmahnt: „Toleranz bedeutet nicht Gleichgültigkeit,<br />

sondern will das Zusammen leben höchst<br />

unterschiedlicher und e<strong>in</strong>ander ausschließender<br />

weltanschaulicher B<strong>in</strong>dungen und religiöser Bekenntnisse<br />

<strong>in</strong> gegenseitigem Respekt ermöglichen.“<br />

Die Beispiele der evangelischen <strong>Kirche</strong> zeigen<br />

e<strong>in</strong>e nach wie vor hohe Bedeutung der christlichen<br />

<strong>Kirche</strong>n <strong>in</strong> den gesellschaftspolitischen Debatten<br />

der bundesrepublikanischen Gesellschaft.<br />

Inwieweit der öffentliche Anspruch der <strong>Kirche</strong>n<br />

allerd<strong>in</strong>gs bei fortdauernden Entkirchlichungsprozessen<br />

auf Zukunft h<strong>in</strong> durch die Bevölkerung<br />

gedeckt se<strong>in</strong> wird, wird zu diskutieren se<strong>in</strong>.<br />

PROF. DR. JUDITH<br />

KÖNEMANN ist<br />

Theo log<strong>in</strong> und Soziolog<strong>in</strong><br />

im Exzellenzcluster<br />

„Religion und<br />

<strong>Politik</strong>” der Universität<br />

Münster.<br />

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