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Deutschland - elibraries.eu

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Kultur<br />

Was war gleich noch mal „F<strong>eu</strong>chtgebiete“?<br />

Ach ja, die Befreiung<br />

des Körpers aus der Diktatur<br />

der Schönheit und der Sauberkeit, natürlich<br />

ein feministisches Fanal und, das sagt<br />

sich halt so leicht, eine Generalabrechnung<br />

mit einem Kapitalismus, der uns<br />

von uns selbst entfremdet und zu Sexualobjekten<br />

degradiert.<br />

Ein Erbeben. Ein Erschaudern. Mehr<br />

als zwei Millionen verkaufte Bücher.<br />

Die Geschichte der jungen Helen Memel,<br />

deren Hobby das Ficken ist und die<br />

sich sonst gern mit dem Duschkopf befriedigt,<br />

die von der „Muschiflora“ redet,<br />

den „Hahnenkämmen“ und ihrem „Perlen-<br />

rüssel“ – die aber irgendwann mit einer<br />

hässlichen Wucherung am Hintern im<br />

Krankenhaus landet und schließlich, nachdem<br />

reichlich Blut, Sperma und Scheiße<br />

vergossen wurden, mit ihrem Pfleger Robin<br />

glücklich wird.<br />

Wie konnte es sein, dass ausgerechnet<br />

eine Frau aus dem Fernsehen eine Art<br />

Fuck-you-Feminismus erfand?<br />

Die D<strong>eu</strong>tungsmaschine lief heiß damals,<br />

wie es immer ist, wenn etwas größer ist<br />

als der Schreibtisch der F<strong>eu</strong>ille tonisten.<br />

„Sexualität ist Wahrheit“, das war der Titel<br />

eines der klügeren Texte – und trotzdem:<br />

Butter ist doch auch Wahrheit und Schlafen<br />

und die Wolken über dem Wald.<br />

Die einen sahen in der Hygieneverweigerung<br />

von Charlotte Roches Romanfigur<br />

eine Forderung nach mehr Natur, Natürlichkeit,<br />

Haar unter den Achseln; die anderen<br />

erklärten, es sei gerade der Irrtum<br />

des alten Feminismus gewesen, dass er<br />

Hässlichkeit mit Selbständigkeit verwechselt<br />

habe.<br />

Es war, als wäre Simone de Beauvoir<br />

ins Dschungelcamp geraten, und die Kritikerinnen<br />

und Kritiker konnten sich nicht<br />

entscheiden, ob sie sie rausholen sollten.<br />

Fünf Jahre ist das alles her, und wenn<br />

nun die Verfilmung von „F<strong>eu</strong>chtgebiete“<br />

in die Kinos kommt, dann kann man ermessen,<br />

wie sich das Land und das Reden<br />

über Feminismus in dieser Zeit verändert<br />

haben: von der Analfissur und Avocadokernen<br />

als Masturbationshilfe zu Kita-<br />

Plätzen und der Quote. Von der Freiheit<br />

des Sex zu den Folgen des Sex. Von der<br />

anarchischen Lust zur Logik der Angestelltenkultur.<br />

Anders gesagt: Die Wirkung von<br />

„F<strong>eu</strong>chtgebiete“ war gleich null. Der Spaß<br />

des Buches war dafür umso größer.<br />

Das wurde schon in den Erklärungsversuchen<br />

2008 übersehen, als alle Welt rätselte,<br />

was das bed<strong>eu</strong>ten könnte, Analsex,<br />

Spermabonbons, die Hämorrhoiden der<br />

Heldin Helen: „Die D<strong>eu</strong>tschen“, schrieb<br />

die „New York Times“ damals, „neigen<br />

zur Überanalyse. Manchmal ist ein lustiges,<br />

schmutziges Buch genau das, ein lustiges,<br />

schmutziges Buch.“<br />

Auch wenn es schwer zu akzeptieren<br />

ist in diesem Land, das gute Laune gern<br />

mit Kulturverfall verwechselt, in dem<br />

Erfolg erklärungsbedürftig ist und auch<br />

das mehr oder weniger Banale eine Bed<strong>eu</strong>tung<br />

haben muss. „F<strong>eu</strong>chtgebiete“ war<br />

keine Streitschrift für eine selbstbestimmte<br />

Körperlichkeit, sondern ein satirischer<br />

Roman, mit Stärken und Schwächen.<br />

Hatte denn auch im Ernst jemand geglaubt,<br />

dass man Millionen Bücher mit<br />

Feminismus verkauft?<br />

Es ging bei „F<strong>eu</strong>chtgebiete“ um etwas<br />

anderes, und der Abstand der fünf Jahre<br />

lässt das besser erkennen, fünf Jahre, in<br />

denen sich erst mit der Banken- und Finanzkrise<br />

und dann mit dem Euro-Debakel<br />

das Ökonomische wieder vor das Ästhetische<br />

geschoben hat: Die Figur der<br />

Helen war immer das Symbol einer Suche<br />

nach Identität. Und Sex, Lust, Schmutz,<br />

oder was man eben dafür hält, waren nur<br />

die Mittel, diese Suche voranzutreiben.<br />

Bestsellerautorin Roche: „Voll auf die Klobrille“<br />

Eine klassische, sehr h<strong>eu</strong>tige Comingof-age-Story,<br />

die Selbstbeschreibung einer<br />

selbstbewussten, suchenden Frau – darin<br />

lagen die Schönheit und die Stärke des<br />

Buches: Und hier setzt auch der Film an,<br />

der am 11. August bei den Filmfestspielen<br />

in Locarno seine Weltpremiere feiert und<br />

am 22. August in die Kinos kommt.<br />

Jugend, weiß Regiss<strong>eu</strong>r David Wnendt,<br />

ist ein Drama, Sex ist Selbsterforschung,<br />

und Lust ist ein Weg zur Freiheit.<br />

Es ist ein existentielles Delirium, in das<br />

er den Zuschauer in der ersten Hälfte seines<br />

Films stößt, mit Bildern, die sich ins<br />

Hirn bohren wollen, mit Musik, die einen<br />

durchschießt, mit einer Hauptdarstellerin,<br />

die jede Frage danach, ob diese Helen<br />

etwa mit Charlotte Roche zu verwechseln<br />

sei, souverän beantwortet: Helen ist Carla<br />

Juri, eine Frau wie ein Junge, ein Gesicht<br />

wie eine Heilige, ein zerschlissenes<br />

T-Shirt der Band Bad Religion um den<br />

dünnen Körper – diese so gut wie unbekannte<br />

28-jährige Schauspielerin aus der<br />

Schweiz trägt in der Rolle der 18-jährigen<br />

Helen den Film mit einer fast philoso -<br />

phischen Naivität, die es ihr erlaubt, auch<br />

die abstrusesten Sätze zu sagen.<br />

„Mir macht es Riesenspaß, mich nicht<br />

nur immer und überall bräsig voll auf die<br />

dreckige Klobrille zu setzen“, schreibt<br />

Charlotte Roche in dem surreal-heiteren<br />

Ton, der das ganze Buch durchzieht und<br />

den auch der Film trifft.<br />

„Wenn ich mit der Muschi auf der Klobrille<br />

ansetze, gibt es ein schönes schmatzendes<br />

Geräusch, und alle fremden<br />

Schamhaare, Tropfen, Flecken und Pfützen<br />

jeder Farbe und Konsistenz werden<br />

von meiner Muschi aufgesogen. Das mache<br />

ich jetzt schon seit vier Jahren auf<br />

jeder Toilette. Am liebsten an Raststätten,<br />

wo es für Männer und Frauen nur eine<br />

Toilette gibt. Und ich habe noch nie einen<br />

einzigen Pilz gehabt.“<br />

Das ist die Komik, die Charlotte Roche<br />

sucht und die auch David Wnendt sucht –<br />

eine Komik, die sich aus Ekel, Scham und<br />

Demütigungen zusammensetzt, so wie<br />

die Kindheit ja auch, mit einer Heldin,<br />

die vom Schwanzlutschen und der eigenen<br />

Sterilisation redet und zu sehr in ihrer<br />

eigenen Welt lebt, um ins Tragische<br />

abzugleiten.<br />

Carla Juri nun gleitet und lächelt und<br />

nuschelt sich durch diesen Film, sie kurvt<br />

wild auf dem Skateboard und wild durch<br />

ihr Leben, sie ist eine Figur an der Grenze<br />

von Aufklärung und Wohlstandsverwahrlosung,<br />

sie ist Freiheitsheldin und Verlorene<br />

zugleich – und damit einer anderen<br />

Figur sehr ähnlich, die Wnendt 2011 in<br />

seinem ersten, furiosen Spielfilm „Kriegerin“<br />

beschrieben hat: dem rechtsradikalen<br />

ostd<strong>eu</strong>tschen Mädchen Marisa, das<br />

prügelt und säuft und ihren wüst tätowierten,<br />

dünnen Leib durch eine Welt<br />

ohne Sinn und Schönheit schiebt.<br />

Wnendt, 35, ist, so scheint es, ein Experte<br />

für antibürgerliche Extremistinnen,<br />

und so wird Helen bei ihm eine Kriegerin<br />

der ganz anderen Art: Auch sie kämpft<br />

mit dem Körper und um den Körper, auch<br />

MAJESTIC FILM (L.); HERMANN BREDEHORST / POLARIS / LAIF (R.)<br />

DER SPIEGEL 33/2013 101

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