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Kultur<br />
AUTOREN<br />
Sex im Konjunktiv<br />
Der Schriftsteller Uwe Timm hat eine tr<strong>eu</strong>e<br />
Lesergemeinde. Mit seinem Roman<br />
„Vogelweide“ stellt er sie jetzt auf eine harte Probe.<br />
104<br />
Uwe Timm<br />
Vogelweide<br />
Kiepenh<strong>eu</strong>er &<br />
Witsch, Köln; 336<br />
Seiten; 19,99 Euro.<br />
Das Schönste an diesem Roman ist<br />
sein Schauplatz. Scharhörn: eine<br />
Miniaturinsel vor der Elbmündung<br />
mit einer Fläche von rund 20 Hektar,<br />
entstanden auf einer Sandbank. Ein einsames<br />
Haus steht drauf. In den Sommermonaten<br />
logiert ein Vogelwart auf der<br />
Insel. Besuch nur nach vorheriger An -<br />
meldung und Genehmigung.<br />
Ideal also für einen Romanhelden, der<br />
über sich und sein Leben nachdenken<br />
möchte. Gleich nebenan liegen die unbewohnte<br />
Schwesterinsel mit dem klingenden<br />
Namen Nigehörn und, sechs Kilometer<br />
entfernt, die größere Insel N<strong>eu</strong>werk,<br />
alles inmitten des Nationalparks Hamburgisches<br />
Wattenmeer.<br />
Die Inselgruppe gehört nicht nur zu<br />
Hamburg, sie ist sogar, obgleich 100 Kilometer<br />
von der Hansestadt entfernt, ein<br />
eigener Stadtteil. Fast 30 Jahre lang gab<br />
es den Plan, dort einen Tiefwasserhafen<br />
zu errichten, doch daraus ist bis<br />
h<strong>eu</strong>te nichts geworden.<br />
Der in Hamburg geborene<br />
Schriftsteller Uwe Timm hat<br />
Scharhörn jetzt zum Schauplatz<br />
seines n<strong>eu</strong>en Romans „Vogelweide“<br />
gemacht. Auf der Insel<br />
spielt sich die Rahmenhandlung<br />
ab. Eschenbach heißt der als Unternehmer<br />
und Liebhaber gescheiterte<br />
Mann, der sich hierhin<br />
zurückgezogen hat. Statt für<br />
einige Zeit ins Kloster zu gehen<br />
oder sich auf den Pilgerpfad zu<br />
begeben, übernimmt er das Amt<br />
des Vogelwarts.<br />
Was ihn dafür qualifiziert?<br />
Zur Erklärung wird im Roman<br />
angeführt, dass er früher einmal einem<br />
befr<strong>eu</strong>ndeten Ornithologen bei dessen<br />
Arbeit half. Von dem ist er nun gefragt<br />
worden, ob er kurzfristig auf Scharhörn<br />
eine Schwangerschaftsvertretung übernehmen<br />
könne. Eschenbach zögert nicht<br />
lange und erfüllt mit Vergnügen die Aufgaben,<br />
die er als Herr der Insel zu er -<br />
ledigen hat: Aufzeichnungen über die<br />
nistenden Vögel zu machen, die vorbeiziehenden<br />
Schwärme zu beobachten<br />
und deren Größe abzuschätzen, den Müll<br />
aufzusammeln, den das Meer anschwemmt.<br />
Begeistert rühmt er den einsamen Ort,<br />
freilich so, als müsste er den Text für einen<br />
Reiseführer schreiben: „Die Sterne<br />
sind so überraschend nah. Du siehst die<br />
ferne Lichterkette der Küste. Das Licht<br />
des L<strong>eu</strong>chtturms von Helgoland und von<br />
der Insel N<strong>eu</strong>werk, so als schneide der<br />
Strahl Bahnen in die Dunkelheit, eine<br />
Verbindung zum Großen Wagen dort<br />
oben, zum Nordstern. Und du siehst in<br />
der Ferne die Lichter der Schiffe.“<br />
Uwe Timm, 73, hat in vier Jahrzehnten<br />
gut zwei Dutzend Bücher publiziert, dar -<br />
unter bekannte und anerkannte Werke<br />
wie „Morenga“, „Kopfjäger“, „Rot“. Der<br />
n<strong>eu</strong>e Roman hält leider nicht, was der<br />
Schauplatz verspricht. Der Autor hat sich<br />
offenbar zu sehr auf seine Fertigkeiten<br />
und sein Handwerk verlassen.<br />
Die Karrieren von Schriftstellern sind –<br />
wie schon ein kurzer Blick in die Gegenwartsliteratur<br />
zeigt – voll von Unwägbarkeiten.<br />
Es gibt die Autoren, die gleich mit<br />
ihrem ersten Roman einen Bestseller<br />
schreiben, danach aber mehr<br />
oder weniger in Schweigen verfallen<br />
(wie Patrick Süskind nach<br />
seinem Millionenerfolg „Das<br />
Parfum“). Es gibt solche, die mit<br />
mehreren Büchern zu guter Auflage<br />
und großem Ansehen gekommen<br />
sind, bevor ihre Erfolgskurve<br />
jäh abbricht (wie im<br />
Fall des h<strong>eu</strong>te fast vergessenen<br />
Schweizers Gerold Späth). Auch<br />
solche, die in größeren Abständen<br />
Romane publizieren, souverän<br />
und ohne um die Lesergunst<br />
zu bangen (Christoph Ransmayr).<br />
Es gibt die Autoren, deren<br />
Erfolg sich an der Kritik vorbei<br />
entwickelt (Daniel Glattauer mit „Gut gegen<br />
Nordwind“). Und dann sind da umgekehrt<br />
die jenigen, die bei emsiger Pro -<br />
duktion kaum ein Publikum finden, aber<br />
von Teilen der Kritik unerbittlich gelobt<br />
und hochgehalten werden (bestes Beispiel:<br />
Reinhard Jirgl). Andere schreiben<br />
ihr Leben lang Buch um Buch und landen<br />
erst spät einen Überraschungserfolg (wie<br />
Dieter Wellershoff mit seinem Roman<br />
„Der Liebeswunsch“). Und gelegentlich<br />
gibt es ein Glückskind wie Eugen Ruge,<br />
der im Alter von 57 seinen Debütroman<br />
publizierte und damit auf Anhieb den<br />
D<strong>eu</strong>tschen Buchpreis und ein großes Publikum<br />
gewann.<br />
DER SPIEGEL 33/2013<br />
Literat Timm: Wo bleibt das Begehren?<br />
Romanschauplatz Scharhörn: „Die Sterne sind