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Deutschland - elibraries.eu

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schen verläuft ein tiefer Graben.<br />

Und wie in Ägypten sieht<br />

sich auch hier eine demo -<br />

kratisch gewählte Regierung,<br />

angeführt von Islamisten, mit<br />

Rücktrittsforderungen konfrontiert,<br />

weil die Masse es so<br />

will. Die Armee hat in Tunesien<br />

allerdings keine politischen<br />

Ambitionen, dafür gibt<br />

es die mächtige Gewerkschaft<br />

UGTT, die schon während der<br />

Revolution eine entscheidende<br />

Rolle spielte und auch im<br />

aktuellen Konflikt Druck auf<br />

die Islamisten ausübt.<br />

Im Hauptsitz der Nahda, im<br />

großzügigen Büro seines Vaters,<br />

sitzt Moadh Ghannouchi,<br />

der im britischen Exil aufgewachsene<br />

Sohn und Stabschef<br />

des Parteiführers. Er spricht<br />

ein sehr britisches Englisch<br />

und weist die Verantwortung<br />

für die Morde weit von sich.<br />

Stattdessen beschuldigt er die<br />

Opposition, sie wolle einen<br />

Putsch herbeiführen, so wie in<br />

Ägypten. Doch anders als die<br />

Muslimbrüder sei al-Nahda<br />

stets kompromissbereit gewesen,<br />

sagt er: Man habe mit den<br />

Säkularen koaliert und auf die<br />

Erwähnung der Scharia in der<br />

Verfassung verzichtet.<br />

Für den Islamisten Ghannouchi<br />

repräsentiert die Opposition<br />

die alte, westlich geprägte Elite des<br />

Landes, die sich noch immer nicht damit<br />

abfinden wolle, dass sie nicht mehr allein<br />

das Sagen habe. Weil diese Säkularen<br />

aber mit demokratischen Mitteln offenbar<br />

nicht an die Macht kommen könnten, probierten<br />

sie es nun mit anderen Mitteln.<br />

Es zeige sich, sagt Ghannouchi, dass sie<br />

dem Islam keinen Platz in der Politik zubilligen<br />

wollten, egal wie demokratisch<br />

die Islamisten gewählt worden seien. Er<br />

scheint ernüchtert, dass es sich für die<br />

Nahda nicht aus gezahlt hat, sich an die<br />

Spielregeln zu halten. So argumentieren<br />

derzeit viele Islamisten in Tunesien.<br />

Die meist säkularen Gegner eint dagegen<br />

die Furcht vor einer geheimen Agenda<br />

der Islamisten. „Die Nahda-L<strong>eu</strong>te sind<br />

keine Demokraten, sie wollen sich nur<br />

an der Macht festklammern“, sagt Béji<br />

Caïd Essebsi, Gründer der wichtigsten<br />

Oppositionspartei Nida Tunis, dem „Ruf<br />

Tunesiens“. Es gibt sie erst seit kurzem,<br />

sie vereint Linke, Liberale und Mitglieder<br />

der früheren Regimepartei RCD – und<br />

sie könnte am meisten von den Protesten<br />

profitieren. Glaubt man den unzuverlässigen<br />

Umfragen, würde sie bei Wahlen<br />

al-Nahda als stärkste Partei ablösen.<br />

In der n<strong>eu</strong>en Parteizentrale im edlen<br />

Stadtteil Berges du Lac wird noch überall<br />

gehämmert, Essebsi sitzt müde im Sessel.<br />

86<br />

Studentin Rabhi mit Mutter: „Ich werde langsam zur Minderheit“<br />

Er diente schon unter Habib Bourguiba,<br />

dem ersten Präsidenten nach der Unabhängigkeit;<br />

nach der Revolution war er<br />

vorübergehend Premier. Nun ist er für<br />

viele Nahda-Gegner die letzte Hoffnung.<br />

Der Politiker hält nichts von dem Argument,<br />

die Islamisten seien demokratisch<br />

legitimiert. Er meint, ihr Mandat sei<br />

abgelaufen. Es stimmt, dass die Parteien<br />

vor der Wahl übereinkamen, die Arbeit<br />

an der Verfassung auf ein Jahr zu begrenzen.<br />

Der Zeitplan war allerdings von Anfang<br />

an unrealistisch.<br />

Bis zu der für Dezember angekündigten<br />

Wahl will Essebsi nun „unabhängigen<br />

Persönlichkeiten“ die Regierungsverantwortung<br />

übertragen. „Stimmt al-Nahda<br />

nicht zu“, sagt er, „riskieren wir ein ägyptisches<br />

Szenario.“ Die Nahda sei fast wie<br />

die Muslimbruderschaft, sie müsse sich<br />

auf Verhandlungen einlassen. Es klingt<br />

wie eine Drohung.<br />

Béji Caïd Essebsi und al-Nahda-Chef<br />

Rachid Ghannouchi sind derzeit die wichtigsten<br />

Gegenspieler, der eine ist 86, der<br />

andere 72 Jahre alt. In einem Land, in<br />

dem die Jugend die Revolution machte,<br />

verwalten nun alte Männer den Übergang<br />

zur Demokratie. Vor allem die Jungen in<br />

Tunis sind frustriert, dass alles so lange<br />

dauert, man spürt bei ihnen inzwischen<br />

so etwas wie Revolutionsnostalgie. Weil<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

ONS ABID / DER SPIEGEL<br />

kaum einer mehr weiß, was<br />

im Land passiert, aber alle<br />

mitreden wollen, mischen sich<br />

auf den Straßen Wahrheit und<br />

Verdächtigungen, Hysterie<br />

und Ängste, Gerüchte und<br />

Wut.<br />

In den Augen der Liberalen<br />

sind die Islamisten schuld am<br />

Anstieg der Gewalt im Land.<br />

Al-Nahda habe enge Verbindungen<br />

zu Salafisten und den<br />

Extremisten von Ansar al-<br />

Scharia, sagen ihre Gegner.<br />

Tatsächlich wurden unter der<br />

amtierenden Regierung auch<br />

einige Extremisten freigelassen;<br />

am Anfang schien die Regierung<br />

nicht gegen die Radikalen<br />

vorgehen zu wollen.<br />

In den Wochen seit dem<br />

zweiten Mord häufen sich nun<br />

aber Berichte über gefundene<br />

Waffen, verhaftete Terroristen<br />

und angebliche Anschlagsversuche.<br />

Es kursieren Videos<br />

von Polizeieinsätzen, doch<br />

weil sich die Behörden in<br />

Schweigen hüllen, sind viele<br />

Tunesier verunsichert. Auch<br />

dass die Armee zu den Vorgängen<br />

im Chambi-Gebirge<br />

keine Auskunft gibt und<br />

Journalisten fernhält, nährt<br />

die Verschwörungstheorien. Je<br />

nach dem, mit wem man<br />

spricht, stecken hinter all diesen<br />

Bedrohungen al-Qaida, al-Nahda, das<br />

alte Regime, die Linken, Frankreich,<br />

Katar, Israel, Algerien – oder eine beliebige<br />

Kombination davon.<br />

Viele Oppositionelle sprechen al-Nahda<br />

die Legitimität ab, ihr Wahlsieg sei<br />

ohnehin von Anfang an gekauft gewesen.<br />

Dabei gibt es dafür keinerlei Beweise.<br />

Die im Verfassungsentwurf vorgesehene<br />

Erwähnung des Islam als „Staatsreligion“<br />

führe direkt in die Scharia, glauben andere.<br />

Aber eine ähnliche Formulierung<br />

findet sich auch in der bisherigen Verfassung.<br />

Am meisten jedoch fürchten sie,<br />

dass die Islamisten bald die Verwaltung<br />

und das Innenministerium kontrollieren<br />

könnten, das Zentrum des einstigen Unterdrückungs-<br />

und Überwachungsapparats.<br />

Aber versucht nicht jede Regierung,<br />

Posten mit ihren eigenen L<strong>eu</strong>ten zu besetzen,<br />

vor allem nach Jahrzehnten der<br />

Diktatur?<br />

In Kasserine, der Stadt im Schatten des<br />

rauchenden Bergs, 200 Kilometer von Tunis<br />

entfernt, interessiert sich kaum jemand<br />

für den Machtkampf in der Hauptstadt.<br />

Hier, im vernachlässigten Landesinneren,<br />

begann der Arabische Frühling,<br />

und der Frust der Bewohner ist noch immer<br />

derselbe wie der jener Jugendlichen,<br />

die im Dezember 2010 im nahen Sidi Bouzid<br />

die Revolution ins Rollen brachten.

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