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Jungmediziner in Hannover: Das Kind verdreht die Augen, schreit vor Schmerzen<br />

PICTURE-ALLIANCE / DPA<br />

KRANKENHÄUSER<br />

Todesspritze<br />

vom Azubi<br />

Ein Medizinstudent bringt<br />

versehentlich einen<br />

Säugling um. Trifft seine<br />

Ausbilder in der<br />

Klinik eine Mitschuld?<br />

Am Morgen des 22. August 2011 bekommt<br />

der kleine Skerdilaid eine<br />

Spritze, die er nicht verträgt. Der<br />

zehn Monate alte Säugling, der im Evangelischen<br />

Krankenhaus in Bielefeld wegen<br />

L<strong>eu</strong>kämie behandelt wird, verdreht<br />

um 8.47 Uhr die Augen, schreit vor<br />

Schmerzen und hat plötzlich blaue Flecken<br />

an den Beinen.<br />

Die Ärzte versuchen, den Jungen zu<br />

retten. Doch gegen 11.15 Uhr sind Skerdilaids<br />

Pupillen laut Arztbericht „weit und<br />

lichtstarr“, etwas später werden die Eltern<br />

dazugebeten, um Abschied zu nehmen.<br />

Um 12.28 Uhr stirbt ihr Sohn an<br />

den Folgen eines allergischen Schocks.<br />

Der Schuldige scheint schnell gefunden:<br />

ein Student aus Münster, der gerade sein<br />

Praktisches Jahr (PJ) – den letzten Stu -<br />

dienabschnitt – an der Klinik absolviert.<br />

Der damals 29 Jahre alte Mediziner hatte<br />

die verhängnisvolle Spritze verabreicht.<br />

Er hätte das milchige Medikament nicht<br />

in Skerdilaids Venenkatheter injizieren<br />

dürfen, sondern es ihm nach und nach in<br />

den Mund träufeln müssen. „Ein Blackout“,<br />

sagt Chefarzt Johannes Otte, „ein<br />

Fehler, der nicht hätte passieren dürfen.“<br />

Doch trifft den Studenten wirklich die<br />

alleinige Schuld? Er wurde zwar in erster<br />

Instanz wegen fahrlässiger Tötung zu ei-<br />

132<br />

ner Geldstrafe von 120 Tagessätzen verurteilt.<br />

Doch im derzeit laufenden Berufungsprozess<br />

am Landgericht Bielefeld,<br />

der in dieser Woche mit einer milderen<br />

Strafe für den Jungmediziner zu Ende gehen<br />

dürfte, wird eines immer d<strong>eu</strong>tlicher:<br />

wie schlecht manche PJler hierzulande<br />

angeleitet und kontrolliert werden.<br />

„Viele Ärzte haben unter einem zunehmenden<br />

Kosten- und Effizienzdruck nicht<br />

mehr die Zeit, sich intensiv um die PJler<br />

zu kümmern“, sagt Bernhard Marschall.<br />

Der Studiendekan der medizinischen Fakultät<br />

Münster, der im Prozess als Sachverständiger<br />

auftrat, wirft dem Bielefelder<br />

Krankenhaus Organisationsmängel<br />

vor. Der Student aus Münster sei am<br />

22. August erst seit wenigen Tagen auf<br />

dieser Station gewesen und wohl unzureichend<br />

instruiert worden.<br />

„Es wurde uns während der Aus -<br />

bildung sehr viel Verantwortung über -<br />

tragen“, bilanzierte ein Ex-Kommilitone<br />

und ehemaliger PJler, der ebenfalls als<br />

Z<strong>eu</strong>ge gehört wurde. Nachfragen seien<br />

eher unerwünscht gewesen, außerdem<br />

habe bei der Arbeit oft die Maxime gegolten:<br />

learning by doing.<br />

Klar ist, dass der münstersche Medizinstudent<br />

falsche Schlüsse zog, als er dem<br />

krebskranken Skerdilaid Blut abnahm<br />

und eine Schwester die verhängnisvolle<br />

Spritze auf den Nachttisch legte. Ihm kam<br />

nicht in den Sinn, das Medikament oral<br />

zu verabreichen. Stattdessen reimte er<br />

sich zurecht, dass der Inhalt durch den<br />

Venenkatheter zu injizieren sei. Schließlich<br />

hatte die Spritze keine Nadel und<br />

passte genau in die Öffnung des Katheters.<br />

In Fachkreisen sei diese Verwechslungsgefahr<br />

schon lange gefürchtet, schreibt<br />

der Münchner Kinderarzt Reinhard Roos,<br />

ein von der Verteidigung bestellter Gutachter.<br />

Gerade in einem Lehrkrankenhaus<br />

müsse auf Risiken aufmerksam gemacht<br />

werden.<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Zu den Hauptaufgaben der PJler zählt<br />

es in manchen Häusern, Medikamente zu<br />

geben. Offenbar fühlen sich aber längst<br />

nicht alle sicher dabei: Laut einer Umfrage<br />

der Universität Magdeburg würden<br />

Medizinstudenten gern mehr darüber<br />

wissen, wie sich Behandlungsfehler vermeiden<br />

lassen.<br />

Eine Befragung von etwa 300 Medizinstudenten<br />

in Münster ergab, dass viele<br />

von ihnen Medikamente ohne das nötige<br />

Wissen um Nebenwirkungen und Risiken<br />

verabreichen. Etwa 80 Prozent der befragten<br />

PJler handelten nach eigenen Angaben<br />

ohne Aufsicht, wenn sie Arzneien<br />

verabreichten. Werden bestimmte Mittel<br />

jedoch zu schnell mit einer Spritze injiziert,<br />

kann der Patient einen Herzstillstand<br />

erleiden.<br />

Die Ausbilder scheinen den jungen<br />

Mitarbeitern noch weit mehr zuzutrauen,<br />

als Spritzen zu setzen und Blut abzu -<br />

nehmen. Etwa 50 Prozent der in Münster<br />

befragten Studenten berichteten, dass<br />

ihre Befunde während der Trainings -<br />

phasen im Krankenhaus nur selten überprüft<br />

würden.<br />

Selbst Eingangsbefragungen, sogenannte<br />

Anamnesen, würden regelmäßig vollständig<br />

von den PJlern übernommen, berichtet<br />

Studiendekan Marschall. Dabei<br />

handle es sich hier um „originäre ärztliche<br />

Aufgaben“ – schließlich würden auf ihrer<br />

Grundlage auch Therapien beschlossen.<br />

Wie viele schwerwiegende Pannen den<br />

Nachwuchsärzten passieren, weist die Behandlungsfehlerstatistik<br />

der Bundesärztekammer<br />

nicht gesondert aus. Der Fall des<br />

kleinen Skerdilaid wurde durch einen an -<br />

onymen Brief bekannt, der nach dem tödlichen<br />

Vorfall an verschiedene Medien geschickt<br />

wurde. Die Eltern des Jungen sind<br />

bis h<strong>eu</strong>te in psychotherap<strong>eu</strong>tischer Behandlung.<br />

Gegenüber Ermittlern sagte die<br />

Mutter, sie verstehe nicht, dass ein krebskrankes<br />

Kind einem Praktikanten anvertraut<br />

worden sei. GUIDO KLEINHUBBERT

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