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Deutschland - elibraries.eu

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so überraschend nah“<br />

ISOLDE OHLBAUM / LAIF<br />

RALF ROLETSCHEK<br />

Solche Extreme kennt Uwe Timms Autorenlaufbahn<br />

nicht. Sie hat sich stetig<br />

entwickelt. Und obgleich die große Leser -<br />

schaft etwas auf sich warten ließ, so darf<br />

man ihn h<strong>eu</strong>te doch einen erfolgsverwöhnten<br />

Autor nennen. Er begann als<br />

Lyriker, promovierte 1971 über Camus<br />

und veröffentlichte mit Mitte dreißig den<br />

immer noch lesenswerten Roman der<br />

68er-Revolte: „Heißer Sommer“.<br />

Vier weitere Höhepunkte gibt es. Dazu<br />

zählt sogar ein Kinderbuch, 1989 publiziert,<br />

das sich – auch als Film – anhal -<br />

tender Beliebtheit erfr<strong>eu</strong>t: „Rennschwein<br />

Rudi Rüssel“. Dann die 1993 veröffentlichte<br />

und ebenfalls verfilmte Novelle<br />

„Die Entdeckung der Currywurst“, die<br />

Geschichte eines untergetauchten Desert<strong>eu</strong>rs<br />

aus den letzten Kriegstagen in<br />

Hamburg. Schließlich zwei autobiografisch<br />

geprägte Bücher: 2003 das fragmentarische<br />

Porträt seines im Krieg gefallenen<br />

Bruders Karl-Heinz, eines SS-Soldaten<br />

(„Am Beispiel meines Bruders“), und<br />

2005 die private Spurensuche im Fall von<br />

Benno Ohnesorg, des 1967 in Berlin<br />

getöteten Studenten, mit dem Timm<br />

befr<strong>eu</strong>ndet war („Der Fr<strong>eu</strong>nd und der<br />

Fremde“).<br />

Der n<strong>eu</strong>e Roman nun ist ein Beleg<br />

dafür, dass Schreibroutine auch in die<br />

Sackgasse führen kann. Und er zeigt<br />

zugleich beispielhaft, was an der d<strong>eu</strong>tschen<br />

Gegenwartsliteratur mitunter so<br />

quälend ist.<br />

Dazu gehört zum Beispiel, dass Dialoge<br />

in wörtlicher Rede eher gemieden werden.<br />

Es mag die Furcht davor sein, dass<br />

es zu stark an Unterhaltungsliteratur erinnert,<br />

wenn die Gespräche der Figuren<br />

gar zu lebhaft und mitreißend ausfallen<br />

(und womöglich noch durch Anführungszeichen<br />

kenntlich sind), also werden ganze<br />

Abendunterhaltungen und selbst Bettgeflüster<br />

in indirekter Rede wiedergegeben:<br />

Referat und Zusammenfassung statt<br />

Vergegenwärtigung – bei Timm immerhin<br />

in korrektem Konjunktiv.<br />

Aber wenn es nur das wäre. Es soll in<br />

„Vogelweide“ ja auch um Liebe und Leidenschaft<br />

gehen, um Verletzungen, Verzweiflung,<br />

Lust und Qual. Nichts davon<br />

wird lebendig. Es bleibt in diesem Roman<br />

pure, sprachlich lustlose Behauptung.<br />

Da ist man „zusammen gewesen“, oder<br />

es gibt ein „tastend staunendes, von Zweifeln<br />

begleitetes Zusammensein“. Nichts<br />

gegen Diskretion, And<strong>eu</strong>tung, Auslassung<br />

in literarischen Werken, zumal das<br />

vulgär Direkte inzwischen ausreichend<br />

erprobt ist (und selten so gelungen wie<br />

bei John Updike) – aber das Begehren<br />

sollte doch zumindest spürbar werden.<br />

Hier ist nur viel davon die Rede.<br />

Und wenn dann mal eine D<strong>eu</strong>tlichkeit<br />

gewagt wird, endet das nicht gut. Anna,<br />

die Geliebte von Eschenbach, ruft im<br />

Liebesrausch „das zuvor Unvorstellbare“,<br />

nämlich: „Ja, fick mich, fick mich“ – was<br />

gleich mit dem Satz „sie hatten getrunken“<br />

entschuldigt wird. Ganz und gar<br />

bizarr dann der Kommentar Eschenbachs:<br />

„Es war, als wären sie mit Benzin<br />

übergossen worden.“ Es bleibt Timms<br />

Geheimnis, wie das zu verstehen sein<br />

soll.<br />

Es gibt vier Hauptpersonen, zwei Paare,<br />

die Timm in seinem Roman nach Art<br />

der „Wahlverwandtschaften“ zusammenführt<br />

und einem Wechselbad der Gefühle<br />

aussetzt. Anders als bei Goethe kommt<br />

es wirklich zum Partnerwechsel, wenn<br />

auch zeitversetzt. Das desolate Ergebnis<br />

wird dem Leser schon früh im Buch mitgeteilt.<br />

Eschenbach verliert alles. Er ist es, der<br />

die mit dem Architekten Ewald verheiratete<br />

Anna, Mutter von zwei Kindern, unbedingt<br />

erobern will. Und sie, der die Ehe<br />

eigentlich heilig ist, da nur durch sie die<br />

„Beliebigkeit des Begehrens“ unterbrochen<br />

werde, zahlt am Ende mit der Trennung<br />

von Ehemann und Geliebtem. Sie<br />

zieht mit ihren Kindern in die USA.<br />

Ewald dagegen findet bei Selma Trost,<br />

der Silberschmiedin, die vorher mit<br />

Eschenbach zusammen war.<br />

Dieser, so viel Strafe muss sein, verliert<br />

am selben Tag wie Anna auch noch seine<br />

Firma. Das Software-Unternehmen geht<br />

in Konkurs, 40 Mitarbeiter stehen auf der<br />

Straße. Doch nachdem er sich ein paar<br />

Tage lang verkrochen hat, weder ans Telefon<br />

noch an die Tür gegangen ist,<br />

kommt Eschenbach zumindest mit diesem<br />

Verlust, auch mit dem seines gepfändeten<br />

Eigentums inklusive Luxuswohnung,<br />

überraschend gut klar.<br />

Sechs Jahre ist das alles her, nun sitzt<br />

der Held auf seiner Vogelinsel – und erwartet<br />

eine Besucherin: jene Anna, mit<br />

der ihn damals die unglückselige Liebesaffäre<br />

verband.<br />

Angekündigt wird dieser Besuch gleich<br />

auf den ersten Seiten des Romans. Doch<br />

es dauert rund 280 weitere Seiten, bis die<br />

Ex-Geliebte endlich dort ankommt. Kein<br />

Wunder: Der Weg vom Festland ist nur<br />

zu bestimmten Tageszeiten möglich, abhängig<br />

von Flut und Ebbe, und auch nur<br />

mit einem Pferdefuhrwerk, falls man<br />

nicht kilometerweit durchs Watt laufen<br />

möchte. Bleibt also Zeit genug, dem Leser<br />

brav und betulich, wenn auch in überflüssig<br />

verschachtelten Rückblenden, die<br />

ganze Vorgeschichte zu erzählen.<br />

H<strong>eu</strong>te kann jeder per Google Earth aus<br />

der Vogelperspektive einen Blick auf<br />

Scharhörn werfen, sogar das kleine Haus<br />

auf Stelzen ist zu erkennen. Derzeit<br />

hü tet ein angehender Tiermediziner dort<br />

ein.<br />

Der Besucherandrang dürfte dank der<br />

ansehnlichen Lesergemeinde von Uwe<br />

Timm bald kräftig anwachsen. Denn wie<br />

immer der Roman „Vogelweide“ gefallen<br />

mag, eines weckt die Lektüre gewiss: N<strong>eu</strong>gier<br />

auf die Insel.<br />

VOLKER HAGE<br />

DER SPIEGEL 33/2013 105

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