Visuelle Modelle - edoc-Server der BBAW - Berlin ...
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Annemieke R. Verboon<br />
die er <strong>der</strong> Bibliothek <strong>der</strong> Sorbonne nachließ. Die Figur ist ziemlich mangelhaft:<br />
Der Zeichner stellte die obersten Äste fälschlicherweise über die »Substanz«. Erst<br />
nach zwei Ästen versuchte er sein Fehler zu korrigieren, indem er ein Blatt übersprang,<br />
wodurch im unteren Teil des Baumes ein Ast fehlt. Das Ergebnis ist daher<br />
wenig instruktiv.<br />
Ein zweiter Konflikt in <strong>der</strong> Komposition <strong>der</strong> Figur in Bezug auf die �eorie ist<br />
die laterale und asymmetrische Lesung <strong>der</strong> zwei Seiten des Baumes. Die Äste an<br />
beiden Seiten des Porphyrianischen Baums sind antithetisch: körperlich gegen<br />
nicht-körperlich, rational gegen irrational et cetera. Antithetische Äste sollen lateral<br />
gelesen werden, aber das kann abermals nicht auf natürliche Weise interpretiert<br />
werden. Dabei gibt schon Evans zu, dass <strong>der</strong> Porphyrianische Baum im Gegensatz<br />
zur divisio vom Aufbau her asymmetrisch ist, was ebenfalls eine unorganische<br />
Lesart erfor<strong>der</strong>t. 22 Je<strong>der</strong> Ast hat eine positive und negative eine Seite. Die negative<br />
Seite aber ist eine Sackgasse: Unbeseelte Körper wie Steine und Mineralien<br />
sind das Ende einer Kette. Die »nicht mit Sinnen ausgestatteten beseelten Substanzen«,<br />
wie Pflanzen und Bäume, bilden ebenfalls das Ende ihrer Kette, ebenso<br />
die beseelten irrationalen Wesen. Obwohl <strong>der</strong> Porphyrianische Baum immer symmetrisch<br />
dargestellt wird, erlaubt nur die linke Seite abzusteigen. Die ganze kanonische<br />
Debatte dreht sich ja um die Definition des Menschen und leitet direkt<br />
darauf hin; es geht hier nicht um die Definition eines Pferdes o<strong>der</strong> einer Pflanze<br />
o<strong>der</strong> den Unterschied zwischen Pferd und Mensch. 23<br />
Ich bezweifle sowohl, dass je<strong>der</strong> Porphyrianische Baum eine Dichotomie sein<br />
soll, als auch, dass jede Dichotomie in <strong>der</strong> Baumfigur wie<strong>der</strong>gegeben werden muss.<br />
Die ältesten Figuren (die auch nie »Porphyrianische Bäume« genannt wurden) hatten<br />
keine dichotomische Struktur, son<strong>der</strong>n eine tabellarische; nur die dreispaltige<br />
Figuration zeigt eine Dichotomie. Außerdem war die Baummetapher auch<br />
nicht die einzige Metapher, die für den Porphyrianischen Baum benutzt wurde.<br />
Seit dem 13. Jahrhun<strong>der</strong>t kam <strong>der</strong> Porphyrianische Baum auch in Form einer<br />
menschlichen Gestalt vor (Abb. 7). In <strong>der</strong> Literatur wird dieses Motiv Syndesmosgestalt<br />
genannt (»Syndesmos« bedeutet im Griechischen »Verbindung«), weil<br />
eine männliche Person durch ihre kosmogonische o<strong>der</strong> gekreuzigte Körperhaltung<br />
das Universum umfasst und Harmonie im Kosmos hervorbringt. Der Mann<br />
steht mit ausgestreckten Armen hinter <strong>der</strong> dichotomischen Figur, wobei die mittlere<br />
Spalte mit seinem Körper verschmilzt. Die Syndesmosgestalt ist traditionell<br />
Christus o<strong>der</strong> eine Substitutsperson wie Adam, David o<strong>der</strong> ein weltlicher Herrscher.<br />
24 Die Verschmelzung dieser menschlichen Gestalt mit dem Porphyrianischen<br />
22 Evans 1980 (wie Anm. 6), S. 39.<br />
23 Siehe hierzu die sehr nützliche logische Darlegung des Porphyrianischen Baums in Umberto<br />
Eco: Semiotik und die Philosophie <strong>der</strong> Sprache, [Turin 1984], übers. von Christiane Trabant-<br />
Rommel, Jürgen Trabant, München 1985, S. 77.<br />
24 Anna C. Esmeijer: Divina quaternitas. Een on<strong>der</strong>zoek naar methode en toepassing <strong>der</strong><br />
visuele exegese, Utrecht 1973, S. 106. Ins Englische übersetzt als: A Preliminary Study in<br />
the Method and Application of Visual Exegesis, Amsterdam 1978.