Cicero Ist der Islam böse? (Vorschau)
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ereits zu Beginn <strong>der</strong> Verhandlung keinerlei<br />
Zweifel. Kopfzerbrechen bereitete<br />
ihm dagegen die Frage, wie Gerhartsreiter<br />
es angestellt haben mochte, jeden, <strong>der</strong><br />
ihm seit den Achtzigern begegnet war, zu<br />
täuschen. Die gesamte New Yorker Oberschicht<br />
ging ihm auf den Leim, selbst<br />
die Frauen, die Gerhartsreiter heiratete,<br />
wussten nicht, wer ihr Ehemann in Wahrheit<br />
war. Über zehn Jahre hinweg war<br />
auch Walter Kirn davon überzeugt gewesen,<br />
dass er und Gerhartsreiter, dessen<br />
richtigen Namen er erst seit kurzem<br />
kennt, in einem beson<strong>der</strong>s vertrauensvollen<br />
Verhältnis zueinan<strong>der</strong> standen.<br />
In „Blut will reden“, einem schillernden<br />
Paradestück amerikanischer Erzählkunst<br />
in <strong>der</strong> Tradition des New Journalism,<br />
sucht Kirn nun nach Antworten. Mit<br />
dramaturgischem Geschick wechselt er<br />
zwischen faktentreuer Gerichtsreportage<br />
und tragikomischer Gewissenserforschung.<br />
Mit sich selbst geht er dabei<br />
mindestens ebenso harsch und ironisch<br />
ins Gericht wie mit dem kaltblütig mordenden<br />
Hochstapler.<br />
Alles hatte für Kirn 1998 mit einer<br />
querschnittsgelähmten, inkontinenten<br />
Setterdame namens Shelby begonnen:<br />
Gerhartsreiter, damals besser bekannt<br />
als Clark Rockefeller, hatte den Hund<br />
per Internet adoptiert. Und Kirn, <strong>der</strong> zu<br />
jener Zeit noch nicht daran gewöhnt war,<br />
von George Clooney, dem Hauptdarsteller<br />
in <strong>der</strong> Hollywoodverfilmung seines<br />
2001 erschienenen Romans „Up in the<br />
Air“, zu Partys eingeladen zu werden,<br />
brannte darauf, den tierlieben Spross einer<br />
<strong>der</strong> reichsten Dynastien aller Zeiten<br />
kennenzulernen. Nur allzu bereitwillig<br />
übernahm <strong>der</strong> 36-Jährige die strapaziöse<br />
Aufgabe, den Hund samt Hun<strong>der</strong>ollstuhl<br />
von Montana quer durch die USA<br />
zum barmherzigen Herrchen nach New<br />
York zu transportieren. Was dann folgte,<br />
liest sich wie eine Parabel auf die eigentümliche<br />
Fähigkeit des Menschen, all das,<br />
was seinem Wunschdenken wi<strong>der</strong>spricht,<br />
aus <strong>der</strong> urteilsbildenden Wahrnehmung<br />
herauszufiltern: Das für einen Rockefeller<br />
auffällig stümperhaft blondierte Haar,<br />
die karge, durchschnittlich eingerichtete<br />
Wohnung, die Abwesenheit von Personal,<br />
das lächerlich geringe Honorar für<br />
den Hundetransport – all die Details, die<br />
Kirns Misstrauen hätten wecken müssen,<br />
übersah er entwe<strong>der</strong> o<strong>der</strong> nahm sie als<br />
Der Junge aus<br />
dem hinterwäldlerischen<br />
Nichts folgte<br />
seinem american<br />
dream und<br />
hatte Erfolg:<br />
Er gab den<br />
Leuten, wonach<br />
sie sich sehnten<br />
Belege für die neoaristokratische Exzentrik<br />
des neuen Freundes.<br />
Auch aus den tieferen Motiven hinter<br />
seiner Gutgläubigkeit macht Kirn keinen<br />
Hehl: Er, <strong>der</strong> begabte Junge aus bescheidenen<br />
Verhältnissen, hatte mehr als einmal<br />
erfahren, wo die soziale Stufenleiter<br />
für ihn endete; sei es durch seine Upperclass-Kommilitonen<br />
in Princeton und Oxford,<br />
die ihn wie ein vulgäres Kuriosum<br />
behandelten, sei es durch seine mühsam<br />
eroberten glamourösen Freundinnen, die<br />
ihn nach kurzer Zeit wie<strong>der</strong> verließen.<br />
Und nun zählte <strong>der</strong> Inbegriff eines vermögenden<br />
Snobs zu seinen engsten Bezugspersonen:<br />
Genugtuung und soziale<br />
Aufstiegschance in einem. Ärgerlich fand<br />
Kirn es dennoch, wenn er nach einem Restaurantbesuch<br />
die Rechnung übernehmen<br />
musste – <strong>der</strong> Mann, den er für einen<br />
Multimilliardär hielt, hatte in <strong>der</strong> Regel<br />
sein Portemonnaie vergessen.<br />
Doch nicht nur sich selbst, auch <strong>der</strong><br />
amerikanischen Gesellschaft hält Kirn<br />
gnadenlos den Spiegel vor: Mit Beginn<br />
<strong>der</strong> Reagan-Ära waren die Tage von<br />
Beatlemania und Flower-Power-Folklore<br />
gezählt. Dafür brach sich nun die<br />
kollektive Faszination für Status, Klassenzugehörigkeit<br />
und britisches Teegebäck<br />
Bahn, die Bestsellerlisten wurden<br />
plötzlich von Etikette-Ratgebern gestürmt.<br />
Gerhartsreiter erwies sich als<br />
vollkommen immun gegen die humoristischen<br />
Facetten dieses Trends. Er lernte<br />
sämtliche Benimm-Bibeln auswendig,<br />
trug nur noch Mokassins und trainierte<br />
sich eine dauerpikierte Sprechweise an.<br />
Der Junge aus dem hinterwäldlerischen<br />
Nichts arbeitete hart an seiner Variante<br />
des amerikanischen Traumes und hatte<br />
Erfolg, weil er seinem Umfeld gab, wonach<br />
es sich sehnte.<br />
Im Jahr 2008 ließen die echten Rockefellers<br />
offiziell verkünden, dass sie<br />
keineswegs mit dem gerade inhaftierten<br />
Gerhartsreiter verwandt seien. In Kirns<br />
Buch wird er dafür zum Repräsentanten<br />
eines viel ehrwürdigeren Geschlechts erklärt<br />
– <strong>der</strong> großen Dynastie skrupelloser<br />
Sozialaufsteiger und krimineller Verwandlungskünstler,<br />
die ihr Hoheitsgebiet<br />
vor allem in <strong>der</strong> angloamerikanischen Literatur<br />
haben. Die eigentliche DNA des<br />
falschen Rockefeller findet sich folglich<br />
in Werken von Herman Melville, Agatha<br />
Christie und, ganz beson<strong>der</strong>s auffällig, in<br />
Patricia Highsmiths Roman „Der talentierte<br />
Mister Ripley“. Dies könnte nach<br />
<strong>der</strong> unzulässigen Glorifizierung eines<br />
kaltblütigen Mör<strong>der</strong>s klingen. Tatsächlich<br />
jedoch handelt es sich um Kirns raffinierten<br />
und unsentimentalen Versuch,<br />
mit Gerhartsreiter endgültig abzurechnen.<br />
So lag dem Hochstapler einst sehr<br />
viel an seiner „literarischen Immunität“.<br />
Im Namen <strong>der</strong> Freundschaft appellierte<br />
er an den gutgläubigen Walter Kirn, niemals<br />
über ihn zu schreiben. Der Schriftsteller<br />
versprach schweren Herzens, sich<br />
daran zu halten. Dem Buch, durch welches<br />
<strong>der</strong> Autor jetzt auf so lesenswerte<br />
Weise wortbrüchig wurde, ist als Motto<br />
ein Satz aus Fitzgeralds „Der große<br />
Gatsby“ vorangestellt: „Ein Schriftsteller,<br />
<strong>der</strong> nicht schreibt, ist im Grunde<br />
ein Wahnsinniger.“ Dass Christian Karl<br />
Gerhartsreiter, <strong>der</strong> durch permanente<br />
Überarbeitung seiner selbst jede Persönlichkeit<br />
verloren hat, hier zur halbliterarischen<br />
Figur degradiert wird, scheint<br />
nur folgerichtig: So konnte <strong>der</strong> Schriftsteller<br />
Kirn wie<strong>der</strong> Herr über den Wahnsinn<br />
werden, <strong>der</strong> ihm in <strong>der</strong> Realität wi<strong>der</strong>fahren<br />
ist. Marianna Lie<strong>der</strong><br />
Walter Kirn<br />
„Blut will reden“<br />
Aus dem Amerikanischen von Conny Lösch<br />
C. H. Beck, München 2014. 282 S., 19,95 €<br />
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<strong>Cicero</strong> – 8. 2014