Cicero Ist der Islam böse? (Vorschau)
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Die letzten 24 Stunden<br />
Mit Omas<br />
Reisestiefeln<br />
auf die letzte<br />
große Fahrt<br />
VERA<br />
LENGSFELD<br />
Vera Lengsfeld<br />
Sie wehrte sich gegen<br />
die Obrigkeit <strong>der</strong> DDR.<br />
1988 wurde sie verhaftet<br />
und in den Westen ab -<br />
geschoben. Von 1990 bis<br />
2005 saß sie im Bundestag,<br />
erst für Bündnis 90/Die<br />
Grünen, dann für die CDU.<br />
Heute ist sie Autorin<br />
Als ich von <strong>Cicero</strong> die Anfrage<br />
für diese Rubrik bekam,<br />
habe ich spontan gedacht:<br />
„Auweia, darüber<br />
hast du dir noch nie den<br />
Kopf zerbrochen.“ Doch dann fiel mir<br />
sofort wie<strong>der</strong> ein, warum ich mir über<br />
das definitive Ende während <strong>der</strong> zweiten<br />
Hälfte meines Lebens bisher keine Gedanken<br />
gemacht hatte. Weil nämlich das,<br />
was man einst Ars moriendi, die Kunst<br />
des Sterbens, genannt hat, für mich seit<br />
genau 34 Jahren feststeht. Damals war<br />
ich 28 Jahre alt, und meine Großmutter<br />
starb. Diese Großmutter hat in meiner<br />
ersten Lebenshälfte eine beson<strong>der</strong>s wichtige<br />
Rolle gespielt. Sie war für mich beinahe<br />
wichtiger als meine Eltern.<br />
In meiner Kindheit bin ich wegen<br />
<strong>der</strong> Berufstätigkeit <strong>der</strong> Eltern sehr oft<br />
bei meiner Großmutter in Thüringen gewesen.<br />
Ich habe später als Teenager und<br />
junge Frau engen Kontakt zu ihr gehalten.<br />
Auch als ich schon in Berlin lebte, bin<br />
ich in jeden Ferien zu ihr gefahren. Und<br />
wann immer ich es einrichten konnte,<br />
auch außerhalb <strong>der</strong> Ferienzeit. Diese<br />
thüringische Großmutter war seinerzeit<br />
die wichtigste Person in meinem Leben.<br />
Im Frühsommer 1980 war ich wie<br />
gewöhnlich bei ihr. Wir hängten gemeinsam<br />
die Wäsche auf. Da hielt sie plötzlich<br />
inne und sagte zu mir: „Du, Vera, guck<br />
mal auf meine Beine.“ Und da hab ich<br />
geguckt. Sie fragte: „Fällt dir was auf?“<br />
„Ja“, sagte ich, „deine Beine sind so geschwollen.“<br />
Darauf erwi<strong>der</strong>te sie: „Die<br />
alten Leute in meinem Dorf haben dazu<br />
immer gesagt, man hat sich die Reisestiefel<br />
angezogen. Und du siehst“, fuhr<br />
sie fort, „jetzt ist es bei mir auch so weit.<br />
Das sind meine Reisestiefel. Die Reise<br />
wird bald losgehen.“<br />
Natürlich habe ich protestiert: „Nein.<br />
Das ist Quatsch. Das ist Aberglauben.<br />
Das muss nicht sein.“ Sie aber hat dagegengehalten:<br />
„Gewöhn dich lieber beizeiten<br />
daran, Vera. Än<strong>der</strong>n kannst du ohnehin<br />
nichts. Dann fällt es dir nachher nicht<br />
so schwer, wenn es bei mir mit dem Sterben<br />
so weit ist.“<br />
Ich musste bald wie<strong>der</strong> weg. Meine<br />
Großmutter hat in diesem Sommer nacheinan<strong>der</strong><br />
alle ihre Enkelkin<strong>der</strong>, zu denen<br />
sie wie zu mir ein sehr gutes Verhältnis<br />
hatte, zu sich eingeladen, um<br />
sich von jedem einzelnen Enkelkind zu<br />
verabschieden und uns auf ihren bevorstehenden<br />
Tod vorzubereiten. Am Ende<br />
dieses Sommers hat sie sich schließlich<br />
ins eigene Bett gelegt und ist dort<br />
gestorben.<br />
Mein Großvater allerdings, ein tatkräftiger,<br />
energischer Mann, wollte diesen<br />
Tod nicht akzeptieren. Als sie sich<br />
auch von ihm verabschiedet hatte und<br />
hoch ins Schlafzimmer ging, um sich<br />
zum Sterben hinzulegen, ist mein Großvater<br />
sofort zum Telefon gestürzt, um<br />
das Krankenhaus anzurufen. Allerdings<br />
hatte sich das Telefon mit meiner Großmutter<br />
verbündet. Es funktionierte ausgerechnet<br />
in diesem so wichtigen Moment<br />
nicht.<br />
Da ist dann meine ebenfalls gerade<br />
anwesende Cousine in die Stadt gerannt,<br />
um im dortigen Krankenhaus Hilfe zu<br />
holen. Aber obwohl sie eine gut trainierte<br />
Sportlerin war, brauchte sie für<br />
den Weg mehr als 20 Minuten. Und bis<br />
man sich im Krankenhaus sortiert hatte<br />
und losfuhr, verging wie<strong>der</strong>um Zeit. Als<br />
<strong>der</strong> Krankenwagen schließlich am Haus<br />
meiner Großeltern ankam, war meine<br />
Großmutter gestorben.<br />
Damals habe ich mir fest vorgenommen:<br />
Genauso willst du es auch einmal<br />
machen. Genauso willst du auch einmal<br />
sterben. Und dieser Wunsch, es in <strong>der</strong><br />
Ars moriendi meiner Großmutter gleichzutun,<br />
hat seine Gültigkeit bis zum heutigen<br />
Tag nicht verloren.<br />
Aufgezeichnet von INGO LANGNER<br />
129<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014