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Ausgabe 1/2011 - Deutsche Olympische Gesellschaft

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wir, wenn wir unsere Augen schließen<br />

und an einen Olympiasieger oder eine<br />

Olympiasiegerin denken? Das Bild eines<br />

muskulösen, makellosen Körpers, ewige<br />

Jugend und Schönheit, eine kerzengerade<br />

Haltung, die uns innere Werte suggeriert:<br />

Aufrichtigkeit, Disziplin, Fleiß,<br />

Einsatzbereitschaft, Kreativität. Mit<br />

dieser Werbung sind wir im Sport aufgewachsen.<br />

Sie ist nötig, um das Profitum<br />

zu finanzieren, die Organisation des<br />

Sports, die Sportfeste, die <strong>Olympische</strong>n<br />

Spiele. Gleichzeitig hat sie immun<br />

gemacht gegen die Alltagsprobleme des<br />

Sports. Wir haben uns über die Tour de<br />

France als Apothekerrundfahrt zwar<br />

lustig gemacht, obwohl es um Leben<br />

und Tod ging, aber trotzdem unverdrossen<br />

das Heldentum gepflegt. Wir haben<br />

vollgestopfte Sprintraketen bei den<br />

Sommerspielen in Seoul 1988 angefeuert<br />

oder 2000 die olympische Edelmetallsammlung<br />

des Dopingensembles aus<br />

dem Team Telekom in Sydney gefeiert.<br />

Weil das Eingeständnis der Wahrheit<br />

unser Weltbild vom Spitzensport komplett<br />

zerstört, seine Existenzberechtigung<br />

samt und sonders in Frage gestellt<br />

hätte. Stattdessen gab und gibt es bis<br />

heute die Ablenkung auf den Einzelfall<br />

in der großen sauberen Masse. Und als<br />

Reflex eine immer aggressivere Forderung<br />

an Hochleistungsathleten, 24<br />

Stunden am Tag den gesamten Wertekanon<br />

zu transportieren hat. Das ist<br />

unmenschlich.<br />

Was verlangen wir? Absolute Sauberkeit. Dabei soll ADAMS<br />

helfen, das Meldesystem der Welt-Antidoping-Agentur. Jeder<br />

A-Kader-Athlet einer als im Sinne des Dopings als gefährdet<br />

eingeschätzten Sportart hat nicht nur drei Monate im Voraus<br />

täglich seinen Aufenthaltsort anzugeben, sondern muss dazu<br />

noch eine Stunde am Tag nennen, zu der er sich an einem<br />

bestimmten Punkt aufhält. Allerdings kann er diese Angabe<br />

kurzfristig ändern. Diese Erfassung ist natürlich nichts anderes<br />

als die Reaktion auf die Tricks und Täuschungen von<br />

reiselustigen Dopern in den vergangenen Jahren. Aber es ist<br />

auch ein Überwachungsprotokoll, dem sich keine andere<br />

Berufsgruppe unterziehen muss - vielleicht mit Ausnahme<br />

der Freigänger. Die Sportler haben es, obwohl sich Datenschützer<br />

empören, mehr oder weniger hingenommen. Weil<br />

viele Athleten, selbst manche Doper unter ihnen, keine pharmazeutische<br />

Aufladung, keine Bluttransfusionen oder andere<br />

Experimente wollen. Sie hoffen auf Chancengleichheit, während<br />

sie bei internationalen Sportfesten, bei Radrennen oder<br />

Gewichthebermeisterschaften mit geübtem Blick schnell<br />

erkennen, wo auf dieser Welt Kontrollsysteme halbwegs<br />

funktionieren und wo sie immer noch keine bedeutende Rolle<br />

spielen. Sie suchen den Erfolg, müssen sich überholen lassen<br />

und kriegen doch nur Geld für dokumentierte Sauberkeit.<br />

Negative Tests, von denen die Sprinterin Marion Jones sage<br />

und schreibe 159 ablieferte, obwohl sie unter Stoff stand.<br />

Diese Szenarien führen in eine Parallelwelt mit einem eigenen<br />

Wertsystem. Sauber ist, was nicht entdeckt wird. Dabei helfen<br />

Ärzte, Trainer, Betreuer, Manager, Verbände. Jan Ullrich hat<br />

die Wahrheit gesagt, als er beteuerte, niemanden betrogen zu<br />

haben - in seinem System.<br />

Ist es also nicht fair, von Athleten eine außergewöhnliche<br />

Charakterstärke zu erwarten, wenn die Maßstäbe nicht übereinstimmen.<br />

Wenn sie geradezu gedrängt werden, mit doppeltem<br />

Boden zu agieren, um im Spiel zu bleiben, in ihrem<br />

Sport, in ihrem Leben. Nicht weniger problematisch sind die<br />

Versuche von nimmermüden Sportfunktionären, ihr Lieblingswort<br />

in den Mittelpunkt des Profitums zu stellen, die Zauberformel<br />

in der Werbung mit Athleten: Das "Fairplay". Jene<br />

Tugend, die Sport vom Geschäft unterscheiden soll, deren<br />

Ausstrahlung von der Industrie für Werbespots entliehen<br />

wird, um dem Produkt einen goldenen Rahmen zu verleihen.<br />

Fairplay wird mehr und mehr beschworen, in Sonntagsreden<br />

und Kampagnen. Vielleicht, weil der Schwund so groß ist. Es<br />

gibt keine verlässliche Erhebung dazu, aber ein Indiz sind die<br />

Begründungen bei der Vergabe von Fairplay-Preisen. Sieht<br />

man mal von Timo Bolls Verzicht auf einen (wie sich herausstellte<br />

entscheidenden) Punkt im Tischtennis ab, dann bleiben<br />

nur Selbstverständlichkeiten übrig. Die Weitergabe eines<br />

Skistocks durch einen ausgeschiedenen Langläufer an einen<br />

Konkurrenten, das Geständnis beim Fußball-Schiedsrichter,<br />

den Ball mit der Hand gespielt zu haben. Wer dies - hier nun<br />

empört - doch als Zeichen großer Würde einschätzt, bestätigt<br />

nur das geringe Niveau. Aber dürfen wir verlangen, was wir<br />

verlangen?<br />

Nämlich noch mehr Disziplin, eine noch größere "Fokussierung"<br />

auf den Spitzensport, wie sie Leistungssportdirektoren<br />

immer häufiger ansprechen, die Ausblendung aller Ablenkung,<br />

zu der irgendwann auch die Freunde und schließlich<br />

die Familie gehört? Also sprechen Sieger nach ihrem Triumph<br />

von der entscheidenden Fähigkeit: dem "Tunnelblick". Nichts<br />

mehr wahrnehmen drum herum. Das ist sinnvoll auf dem<br />

Schießstand beim Biathlon, es ist eine hohe Kunst. Im Trainingsalltag<br />

führt die Einschränkung der Wahrnehmung aber<br />

zwangsläufig zu einer Sprachlosigkeit, die Athleten wiederum<br />

zum Vorwurf gemacht wird. Wenn die Prominenten zu den<br />

Tagesthemen außerhalb ihrer Arenen nichts Gescheites beitragen<br />

können, wenn manchen zu den Stürzen der Despoten<br />

im nahen Osten nichts anderes einfällt als die bange Frage,<br />

ob denn der Wettkämpf deshalb ausfalle. Das aber ist naheliegend,<br />

weil sie immer häufiger und immer länger dort hin<br />

gehen, wo wir sie hinschicken: In den Tunnel.<br />

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