CITY GUIDE DORNBIRN RITUALE
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Interview: Karin Guldenschuh, Fotografie: Lars Wieser<br />
<strong>RITUALE</strong><br />
Der medienwirksame Handschlag zwischen zwei Staatsmännern, der ekstatische Jubelrausch<br />
einer Fußballmannschaft, die Kinderreime am Esstisch. Unser Leben ist prall gefüllt mit Ritualen.<br />
Was macht die Kraft solcher eingespielter Verhaltensabläufe aus? Warum brauchen wir Ordnung<br />
und Wiederholung? Der Philosoph (und Neo-Dornbirner) Peter Natter sucht im Gespräch mit<br />
Karin Guldenschuh Antworten auf dieses spannende Phänomen.<br />
Fleisch und Fleisch besingen auf<br />
ihrer neuen CD den typischen Samstagvormittag<br />
der Dornbirner. Man trifft sich auf<br />
dem Marktplatz und rundum. Ein Ritual?<br />
Wenn das kein Ritual ist! Was ist ein Ritual?<br />
Ein Ritual ist das, was wir Ritual nennen.<br />
Was nennen wir Ritual? Das, wofür uns<br />
kein anderer Begriff gleich gut passt. Ein<br />
Modus, eine bestimmte Art, Dinge zu tun.<br />
Nicht auf das Was kommt es an, sondern<br />
auf das Wie. Das Wie macht das Was erträglich.<br />
Das ist die allerdings nicht ganz risikolose,<br />
aber eben trendig-kultige Umkehrung<br />
einer Nietzsche-Formel: „Wer ein Was zu<br />
leben hat, erträgt fast jedes Wie.“ Unsere<br />
modernen Alltagsrituale, vor allem die öffentlichen,<br />
oszillieren gefährlich zwischen<br />
banaler Gewohnheit und abgehobener Heiligkeit,<br />
zwischen Kitsch und Genialität.<br />
Was unterscheidet denn die Gewohnheit<br />
vom Ritual?<br />
Wahrscheinlich der entscheidende,<br />
schmale Grat zwischen Unbewusstem und<br />
Bewusstem. Die Gewohnheiten haben uns –<br />
die Rituale haben wir. In der Gewohnheit<br />
wird Gewöhnliches geheiligt. Das ist der<br />
Weg, der direkt in den Kitsch führt: in den<br />
Religionskitsch, den Heimatkitsch, den<br />
Ärzteroman- und Sennerinnenkitsch. Das<br />
Ritual banalisiert Sakrales. Es macht Heiliges<br />
erlebbar. Das Samstag-Vormittag-am-<br />
Marktplatz-Ritual ist möglicherweise eine<br />
in die Alltagssphäre herein- oder heruntergeholte<br />
Spiritualität. Das Rituelle hat auch<br />
dort seinen Platz, wo es um Einmaliges<br />
geht: die Sakramente im Bereich der Religion,<br />
die Mann- und Fruchtbarkeitsriten vieler<br />
Kulturen. Gewohnheiten sind fast immer<br />
banal (nichts desto weniger hilfreich!); Rituale<br />
betreffen den Bereich des Kultischen,<br />
des Kulturellen, Heiligen & Heilenden.<br />
Manche Wissenschafter grenzen das<br />
Ritual scharf ab von der Routine, vom Spiel,<br />
vom Brauchtum und von der Zeremonie.<br />
Wie stark muss Ihrer Meinung nach die religiöse<br />
oder spirituelle Komponente sein, damit<br />
man von einem Ritual sprechen kann?<br />
Ich würde das Ritual nicht so sehr abgrenzen,<br />
als vielmehr ausschwärmen las-<br />
3