CITY GUIDE DORNBIRN RITUALE
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Rituale sind Ausdruck des Persönlichen und<br />
Privaten: Sie sind meine ureigene Antwort auf<br />
die abstrakten Anforderungen der Welt.<br />
wie es geschieht. Ich treffe Verfügungen für<br />
und über mein Leben. Ich lerne sinnvoll umzugehen<br />
mit dem, was mir am nächsten ist:<br />
ich selbst. Gleichzeitig drückt das Ritual<br />
Zugehörigkeit zu anderen, zu einer Gemeinschaft<br />
aus. Rituale befreien von Routine.<br />
Sie machen stark und sie sind ein Gerüst,<br />
auf dem wir hoch hinaufklettern. Rituale<br />
versetzen uns in einen größeren Zusammenhang.<br />
Sie zeigen uns, dass wir wichtig<br />
sind, weil wir nicht allein sind. Denken Sie<br />
an das berühmte Essritual: „Ein Löffel für<br />
Mama, ein Löffel für Papa, ein Löffel für<br />
Tante Paula, ein Löffel für Onkel Rudi …“<br />
Rituale geben auch Erwachsenen Orientierung.<br />
Steigt das Bedürfnis nach Ritualen<br />
in Zeiten sozialer Unsicherheit?<br />
Ja: In Zeiten der Unsicherheit steigt das<br />
Bedürfnis nach Sicherheit: vor allem steigt<br />
es weiter an die Oberfläche unseres Empfindens,<br />
Reagierens, Denkens und Handelns.<br />
Soziale Unsicherheit betrifft zwar<br />
oft Zukunftsfragen („Bekomme ich noch<br />
eine Pension?“ „Wie geht es mit meinem Arbeitsplatz<br />
weiter?“ „Was kann ich für meine<br />
Kinder tun?“), wirkt jedoch gleichwohl in<br />
der Gegenwart und muss in der Gegenwart<br />
bewältigt werden: wo und wann sonst?! Dabei<br />
helfen Rituale, die den Alltag einerseits<br />
mit Bedeutung aufladen und andererseits<br />
von Vergangenem oder Zukünftigem abschirmen.<br />
So spielen Rituale auch in der<br />
Bewältigung von traumatischen Aspekten<br />
der Vergangenheit eine wesentliche Rolle.<br />
Ich habe oft den Eindruck, dass unser soziales<br />
Verhalten viel mehr schematisiert ist<br />
als noch vor dreißig, vierzig Jahren; nicht<br />
mehr so spontan, nicht mehr so frei. Wo wir<br />
uns bedroht oder unwichtig fühlen in der<br />
globalisierten, ökonomisierten, gestylten<br />
Welt, schaffen wir uns eine Bühne, auf der<br />
endlich unsere eigene Inszenierung gespielt<br />
wird. Die Bühne Marktplatz zum Beispiel.<br />
Anthropologen sagen, dass Rituale unser<br />
Zusammenleben erst möglich machen.<br />
Kann die Gesellschaft ohne Rituale gar<br />
nicht funktionieren?<br />
Doch: Vielleicht ist die Gesellschaft ja<br />
genau das, was ohne Rituale funktioniert,<br />
oder besser: passiert. Und die (gemeinsamen)<br />
Rituale markieren den Übergang von<br />
der Gesellschaft zur Gemeinschaft, den<br />
Übergang vom Nebeneinander zum Miteinander.<br />
So wie meine Gedanken, wenn<br />
sie um das Thema Rituale kreisen, ständig<br />
zwischen Ironie ( = Distanz) und Empathie<br />
(= Nähe) schwanken. Rituale sind Ausdruck<br />
der Kreativität und Phantasie, somit der Individualität.<br />
Sie sind bewusste Gestaltung<br />
des Lebens in seinen alltäglichen oder allwöchentlichen<br />
und zwischenmenschlichen<br />
Verrichtungen. Sie sind spielerisch und<br />
zweckfrei: Sie stehen ganz einfach für sich<br />
selbst. Sie bringen Möglichkeiten ins Spiel,<br />
wo die Realität einengt.<br />
Wie regional sind Rituale ausgeprägt?<br />
Gibt es Rituale, die speziell in Vorarlberg<br />
oder gar in Dornbirn gelten?<br />
Kulturell, also regional, gibt es natürlich<br />
ganz unterschiedliche Ausprägungen. In<br />
erster Linie aber sind Rituale Ausdruck des<br />
Persönlichen und Privaten: Sie sind meine<br />
ureigene Antwort auf die abstrakten Anforderungen<br />
der Welt. Das Kaffee-im-Steinhauser-Ritual<br />
kann nur in Dornbirn funktionieren.<br />
In Wien ist es das Hawelka- oder<br />
Sacher-Ritual. Es gibt da keine Konkurrenz.<br />
Aus der 1960er-Jahre-Sommerfrischezeit<br />
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