CITY GUIDE DORNBIRN RITUALE
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Etwas pathetisch ausgedrückt: Rituale sind<br />
Anker, die wir in der stürmischen See des<br />
Lebens setzen.<br />
bei meiner Tante Hilda im Hatlerdorf sind<br />
mir Erinnerungen an einen auf wunderbare<br />
Weise ritualisierten Alltag (in dem folgerichtig<br />
das Heimweh nie eine Chance hatte)<br />
geblieben: der vormittägliche Einkauf in Almas<br />
Milchlädele in der Hinteren Achmühle,<br />
die rote Diezano zum heißen Leberkäs, das<br />
unbarmherzig geforderte Mittagsschläfchen<br />
in der vom Fliegengesums erfüllten<br />
Veranda, der auf dem Herdfeuer gekochte<br />
Kaffee am Nachmittag und das nun wahrlich<br />
rituelle Bad in der Dornbirner Ach am<br />
Abend, bevor dann Vico Torriani in seine<br />
Fernseh-Show geladen hat ...<br />
Rituale folgen dem Kalender wie Ostern,<br />
Weihnachten oder markieren wichtige<br />
Lebensabschnitte wie Geburt, Hochzeit,<br />
Tod, warum hängen wir so an diesen<br />
Abläufen?<br />
Das ist sehr schön und richtig gesagt:<br />
Wir hängen an ihnen. Aber nicht in dem Sinn,<br />
dass wir sie lieben. Wir hängen an ihnen:<br />
ungefähr wie Marionetten im Puppenspiel.<br />
Und wenn es Nacht wird – oder eben Samstag<br />
–, erwachen die Puppen zum Leben.<br />
Denn genau das zyklisch Wiederkehrende<br />
wie die Jahreszeiten, die wichtigen Feste<br />
im Jahreskreis, das „Stirb und werde“, der<br />
unaufhaltsame Ablauf des Lebens, seine<br />
Vergänglichkeit, machen uns weich und<br />
hoffentlich zugänglich und bereit für die<br />
großen Fragen des Lebens. Die Rituale<br />
sind Formeln; sie sind unsere Sprache für<br />
das Unsagbare, für die Angst, für die Freude,<br />
die Hoffnung. Etwas pathetisch ausgedrückt:<br />
Rituale sind Anker, die wir in der<br />
stürmischen See des Lebens setzen.<br />
Rituale ordnen also unser Leben, machen<br />
es sicher und vertraut. Auf dem Weg<br />
ins so genannte Wissenszeitalter wird aber<br />
die Welt viel komplexer und unübersichtlicher,<br />
sollen wir uns da noch mehr auf die<br />
alten Rituale besinnen oder brauchen wir<br />
gerade für die neuen virtuellen Cyberwelten<br />
auch neue Rituale?<br />
Ist das wirklich die Frage? Und seltsam,<br />
dass mit dem Wissen die Unübersichtlichkeit<br />
größer wird! Möglicherweise machen<br />
Rituale unser Leben nicht nur sicher und<br />
überschaubar, sondern auch lustig und<br />
lustvoll. Offenbar entstammen viele Rituale<br />
einer Welt, die übersichtlicher und weniger<br />
komplex war, als unsere heutige es ist.<br />
Rituale sind nicht nur Ausdruck der Sehnsucht,<br />
vielleicht noch mehr sind sie Ausdruck<br />
des Wohlbehagens und der Glücksfähigkeit.<br />
Dr. Peter Natter<br />
Romanist und Philosoph, lebt in Dornbirn.<br />
Reflektiert und referiert zu literarischen und<br />
philosophischen Fragen und betreibt eine<br />
philosophische Praxis in Hittisau.<br />
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