CITY GUIDE DORNBIRN RITUALE
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Rituale sind wichtig zur Entdeckung und Stärkung<br />
der eigenen Identität. Sie sind die ganz persönliche<br />
Art, Alltagssituationen zu erleben, zu gestalten,<br />
das eigene Leben in die eigene Hand zu nehmen.<br />
sen. Aber ich bin ja kein Wissenschafter,<br />
sondern Philosoph. Rituale haben von all<br />
dem, was Sie aufzählen, mehr oder weniger:<br />
sie sind ein Spiel und verspielt, also<br />
todernst; Sie sind Brauchtum, sie sind Zeremonien,<br />
sie sind simpel und sie sind (uns)<br />
heilig. Es gibt religiöse Rituale und es gibt<br />
weltliche Rituale, denken Sie etwa an das<br />
Geschehen in den Parlamenten oder gar in<br />
den Monarchien (von den Diktaturen ganz<br />
zu schweigen). Ein kleines Bier im Roten<br />
Haus kann durch und durch ein Ritual sein<br />
und hat gar nichts Spirituelles an sich, ohne<br />
deshalb gleich geistlos sein zu müssen. Das<br />
Religiöse ist nicht gebunden an Rituelles,<br />
das Rituelle ist kein Garant für Religiöses<br />
und schon gar nicht gebunden an solches;<br />
außer man betrachtet den Kellner im Steini<br />
als Oberpriester.<br />
Vom Zähneputzen als Reinigungs-,<br />
manche sagen sogar Bußritual, bis zum<br />
Schlafengehen: Unser Alltag steckt voller<br />
Rituale. Was macht sie so wichtig für uns?<br />
Eben dass sie heilen. Und weil nichts<br />
(nur das) ist, was es scheint! Rituale sind<br />
wichtig zur Entdeckung und Stärkung der<br />
eigenen Identität. Sie sind die ganz persönliche<br />
Art, Alltagssituationen zu erleben,<br />
zu gestalten, das eigene Leben in die<br />
eigene Hand zu nehmen. Je bedrohter uns<br />
das eigene Leben erscheint, desto mehr<br />
neigen wir dazu, uns mit Hilfe von Ritualen<br />
zu schützen, mit ihnen zu antworten. Die<br />
Bedrohung kann ganz alltäglich sein und<br />
im Stress bestehen, den uns der Job beschert;<br />
sie kann aber auch prinzipieller Natur<br />
sein. Philosophisch gesehen ist der Tod<br />
die Bedrohung Nummer eins. „Es ist alles<br />
lächerlich, wenn man an den Tod denkt“,<br />
sagt Thomas Bernhard. Vor genau dieser<br />
Lächerlichkeit schützen wir uns mit Ritualen.<br />
Lieber lächerliche Rituale als ein lächerliches<br />
Leben.<br />
Können Rituale auch helfen, besser<br />
mit der Zeit umzugehen?<br />
In meiner Definition von Zeit bin ich<br />
selbst die Zeit. Ich habe keine Zeit, ich bin<br />
Zeit. Es gibt keine Rituale ohne Erinnerung.<br />
Und alle Rituale haben ein Ende mit<br />
dem Ende der Zeit, mit dem Tod. Deshalb<br />
wird nichts so intensiv ritualisiert wie der<br />
Tod, das Sterben und Gestorbensein. Die<br />
für mich schönste Darstellung eines Rituals<br />
findet sich im wahrscheinlich größten<br />
Erinnerungswerk der Weltliteratur, in<br />
Marcel Prousts 5000-Seiten-Roman „Auf<br />
der Suche nach der verlorenen Zeit“. Das<br />
Ritual, das geschildert wird, betrifft den<br />
Gute-Nacht-Kuss, den der kleine Marcel<br />
unbedingt von seiner Mutter bekommen<br />
muss, um einschlafen zu können. Wirklich<br />
nur, um einschlafen zu können? Natürlich<br />
nicht: Dieser ritualisierte Gute-Nacht-Kuss<br />
erschließt und öffnet ihm die ganze Welt.<br />
Mein liebstes Ritual ist das Aufschlagen<br />
eines Bandes dieses Romans in der noblen<br />
französischen Leder-Ausgabe. Das Ritual<br />
ist dem Fetischismus nah verwandt.<br />
Rituale beim Essen, beim An- und Ausziehen,<br />
bei der Begrüßung und Verabschiedung,<br />
beim Enten Füttern usw.: Besonders<br />
Kinder bestehen darauf, dass bestimmte<br />
Handlungsabläufe genau eingehalten<br />
werden. Warum tun Eltern gut daran, diese<br />
Rituale ernst zu nehmen?<br />
Rituale sind Ausdruck der Freiheit oder<br />
Ausdruck für unsere Sehnsucht nach Freiheit.<br />
Wir selbst wollen bestimmen, was und<br />
4