CITY GUIDE DORNBIRN RITUALE
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stachen aus den zahlreichen Ritzen und Spalten<br />
seines Mauerwerks Grashalme hervor – er<br />
wurde als Heustadel genutzt.<br />
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Plechazunga Ata<br />
Ein Ritualplatz, der für meine spätere Arbeit<br />
als Maler wichtig werden sollte, steht heute<br />
noch unter der Oberdorfer Kirche. Es ist das<br />
ehemalige Kaplanhaus, dessen Fenster, während<br />
meiner Kindheit und Jugend von Brettern<br />
verschlagen, keinen Blick ins Innere zuließen.<br />
Auch hier war ich so lange auf meine Phantasie<br />
verwiesen, bis sich die Gelegenheit bot, in diesem<br />
Raum meiner Vorstellung, der schließlich<br />
renoviert und in Teilen als Galerie der Öffentlichkeit<br />
zugänglich gemacht worden war, eine<br />
Ausstellung zu machen. Sie zeigte Gemälde von<br />
Plechazunga Ata, einer Kunstfigur, hinter der<br />
sich damals (ursprünglich waren wir zu dritt)<br />
meine nunmehr längst verstorbene Lebensgefährtin,<br />
die Künstlerin Andrea Mörth, und ich<br />
verbargen. Dieses virtuelle Künstler-Tamagotchi<br />
hatte einigen Erfolg, konnte aber den Tod<br />
seiner wichtigsten Schöpferin nicht überleben.<br />
Doch ist mir von dieser Ausstellung im Kaplanhaus<br />
der Wunsch geblieben (und mittlerweile<br />
zu einem Wesenszug meiner künstlerischen<br />
Tätigkeit geworden), meine Arbeiten nur noch in<br />
Räumen zu präsentieren, die für mich temporär<br />
rituelle Bedeutung gewinnen. Ein schönes Ritual<br />
gelang im großen Schüttkasten des Nexenhofs<br />
im Weinviertel, der in einer Silvesternacht<br />
durch die elektronische Verstärkung von<br />
Geräuschen stampfender Besucherfüße zum<br />
Klangkörper wurde. Oder vor kurzem auch im<br />
Bahnhof und Gemeinderatssaal von Andelsbuch,<br />
wo Be-sucher und Gemeindepolitiker als<br />
Teil einer rituellen Installation agierten (hoffentlich<br />
ohne es gemerkt zu haben).<br />
Dornbirn selbst huldigt seit rund zwanzig<br />
Jahren einem Großritual, dem der Boomtown.<br />
Rituale fordern von jenen, die daran beteiligt<br />
sind, einen gewissen Gleichklang, daher sind<br />
mir kleine, persönliche Rituale lieber, da zwinge<br />
ich mich nur selbst in einen Rahmen. Das Verschwinden<br />
der kleinen Ritualplätze meiner<br />
Kindheit im Stadtraum schafft zwar neue und<br />
größere Möglichkeiten für die Dornbirnerinnen<br />
und Dornbirner, bedeutet aber auch einen gewissen<br />
Verlust an Eigensinnigkeit, ihrer großen<br />
Tugend von alters her.<br />
Querschädel<br />
So muss ich denn ein Loblied auf den größten<br />
aller Querschädel dieser Stadt anstimmen,<br />
den Löwenwirt Ulmer aus dem Hatlerdorf. Er<br />
hat als Aufrührer und Anführer der Andächtler,<br />
einer erzkatholischen Widerstandsgruppe gegen<br />
die Josephinischen Reformen, 1791 den<br />
Austritt der Stadt aus dem Heiligen Römischen<br />
Reich Deutscher Nation verkündet (was ihm<br />
Bregenzer Häscher an den Hals und Haft bis<br />
zum Tod in Innsbruck eingetragen hat, aber ich<br />
will auf die Unbill, die Dornbirn durch diese<br />
Nachbarn erleiden musste, nicht weiter eingehen).<br />
Auch wenn Ulmers Ideologie jener der<br />
Französischen Revolution diametral widersprach,<br />
ist mir außer dem Löwenwirt keiner bekannt,<br />
der zu dieser Zeit Habsburg und seinem<br />
unterdrückerischen Regime den Finger gezeigt<br />
hätte. Lasst mich an dieser Stelle kurz verweilen,<br />
um dem wilden Hatler mit einem andächtigen<br />
Schluck Subiro die Ehre zu erweisen.<br />
In Ulmers Haus lebt übrigens heute ein weiblicher<br />
Nachfahr, die von mir sehr geschätzte<br />
und verehrte Rebellin Annemarie Spirk, Tochter<br />
vom Bäck Rick. Möge sie aus einer langen Kette<br />
von Hohepriestern des Eigensinns noch lang leben<br />
und in ihr und mit ihr und durch sie der Eigensinn<br />
in Dornbirn zu neuer Blüte gelangen.<br />
Nichts macht einen fern von Dornbirn Lebenden<br />
stolzer, als das Bewusstsein, dass in der<br />
Stadt der Kindheit die wichtigsten Ritualplätze<br />
erhalten bleiben, Herz und Hirn zur Feier torrenpyrschen<br />
Eigensinns.<br />
Christian Zillner ist Maler und Schreiber in Wien<br />
und im Falter Verlag für Corporate Publishing<br />
zuständig.