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Wozu Religion?<br />
Gedanken über die Frage: Wozu braucht der Mensch Religion?<br />
Spannend und immer wieder neu gestellt<br />
Es hat schon einige Zeit bei mir gedauert, bis ich<br />
mich endlich dazu entschließen konnte, oder sollte<br />
ich besser sagen, dazu durchgerungen hatte, diesen<br />
Artikel über die Frage nach der Notwendigkeit von Religion<br />
zu schreiben. Nicht zuletzt deshalb, weil die Frage nach<br />
Sinn und Zweck von Religion ein komplexes Themenfeld<br />
anspricht und aus verschiedenen<br />
Blickwinkeln heraus gestellt werden<br />
kann. Hinzu kommt, dass<br />
sich in der Vergangenheit schon<br />
viele prominente Geisteswissenschaftler<br />
sprich Theologen,<br />
Philosophen, Soziologen und<br />
Psychologen, aber auch Naturwissenschaftler,<br />
darunter Physiker<br />
wie Albert Einstein und Carl<br />
Friedrich von Weizsäcker, zu diesem<br />
Thema mehr oder weniger<br />
ausführlich und intensiv geäußert<br />
haben. Ein Blick in die fachbezogene<br />
Literatur bestätigt dies.<br />
Warum, so mein immer wieder<br />
aufsteigender innerer Widerstand,<br />
sollte ich als Laie auch noch meinen<br />
„unwissenschaftlichen Senf“<br />
dazutun? Ausschlaggebend, es<br />
doch zu tun, war schließlich der<br />
Gedanke, dass es bei dieser zwar<br />
schwierigen, aber nach wie vor<br />
sehr spannenden Frage, in ihrem<br />
Kern überhaupt nicht um<br />
spezielles „Wissen“ gehen kann,<br />
sondern viel mehr um „erlebte<br />
Erfahrung“. Was ich damit sagen<br />
will: Religion, richtig verstanden<br />
und praktiziert, ist keine Angelegenheit<br />
des Kopfes und der Intelligenz.<br />
Religion, und hier im<br />
Besonderen das Christentum mit<br />
seinem mystischen Hintergrund,<br />
will und kann, wenn überhaupt,<br />
in seiner wahren Tiefe nicht mehr<br />
gedacht, sondern immer nur ganz<br />
persönlich erfahren werden. Und dazu braucht es kein<br />
Hochschulstudium, sondern vor allem Achtsamkeit, um die<br />
Kostbarkeit und Einzigartigkeit des Daseins und die tiefe<br />
universale Verbundenheit mit allem Lebendigen zu erfahren<br />
und zu spüren. Aber dazu später mehr.<br />
Soweit der Mensch wissenschaftlich (anthropologisch,<br />
archäologisch, ethnologisch) überhaupt in der Lage ist, in<br />
Philosophischer Essay<br />
seine eigene Entwicklungsgeschichte zurückzublicken,<br />
sicherlich aber seit dem Zeitpunkt, ab dem der Mensch die<br />
geistige Fähigkeit besaß, sich selbst zu erkennen und über<br />
sein eigenes Dasein in der Welt zu reflektieren, versucht er,<br />
eine für ihn befriedigende Antwort auf die beunruhigende<br />
Frage nach dem Woher und Wohin seines Lebens zu finden<br />
und damit nach Sinn und Zweck von Religion.<br />
Verschärft und an Bedeutung<br />
erheblich zugenommen hat diese<br />
Frage jedoch durch die umfangreichen<br />
Erkenntnisse in den<br />
Naturwissenschaften der letzten<br />
dreihundert Jahre. Insbesondere<br />
die neu entwickelten naturwissenschaftlichen<br />
Theorien über die<br />
Entstehung des Universums (Urknalltheorie),<br />
die Entwicklung<br />
des Lebens auf der Erde (Evolutionstheorie),<br />
die Erkenntnisse über<br />
Raum und Zeit (Relativitätstheorie)<br />
bis hin zu den Forschungsergebnissen<br />
in der Psychologie<br />
und Neurologie, sie alle haben<br />
nicht nur das Weltbild gravierend<br />
verändert, sondern auch dem bis<br />
dahin vorherrschenden Menschenbild<br />
mehrere narzisstische<br />
Kränkungen zugefügt.<br />
Aber all diese neuen naturwissenschaftlichen<br />
Erkenntnisse und<br />
eine weltweite Zunahme säkularisierender<br />
Gesellschaftsformen<br />
haben es bis heute nicht fertiggebracht,<br />
die Religionen dieser Welt<br />
überflüssig zu machen. Nach wie<br />
vor bekennen sich weit über 80<br />
Prozent aller Menschen, und das<br />
sind 6,7 Milliarden, zu einer der<br />
fünf großen Weltreligionen, davon<br />
(nur noch?) 2,1 Milliarden<br />
Christen. Wenn aber alle naturwissenschaftlichen<br />
Versuche, die<br />
Welt und den Menschen zufriedenstellend<br />
erklären zu wollen, nicht<br />
ausreichen, wenn trotz allem wissenschaftlichen und technischen<br />
Fortschritt, trotz der geistesgeschichtlichen Epoche<br />
der Aufklärung in Europa, der größte Teil der Menschheit in<br />
irgendeiner Form (immer noch) religiös ist, liegt dann nicht<br />
die Vermutung nahe, dass es tief in der Natur des Menschen<br />
liegen muss, ein religiöses Wesen zu sein? Ist Religiosität<br />
nicht, wie allgemein angenommen, nur soziokulturell anerzogen<br />
und psychologisch begründet, sondern hat sie auch<br />
50 durchblick 1/<strong>2009</strong>