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Leben<br />
Die Frauen leben in ihrer Wohngruppe wie eine große Familie.<br />
Später, inzwischen am Mittagstisch, höre ich einer<br />
Bewohnerin zu, die im Siegerländer Dialekt spricht. Ich<br />
gebe mit meinen Kenntnissen an und zitiere: „Ka da dat da?<br />
Dat ka dat!“ und die Siegerländerin ergänzt: „Dat dat dat<br />
ka!“ Da lachen wir zusammen. Aber dann wird es traurig.<br />
„Ich muss jetzt schnell nach Hause“, sagt die Tischnachbarin<br />
mir gegenüber, die schon zwei Jahre zur „Insel“ gehört<br />
und früher Lehrerin war. „Aber mit dem Auto geht es nicht,<br />
weil es glatt ist.“ Und dann kommt unvermittelt der Satz:<br />
„Der Vater wollte zum Bus. Er wurde überfahren und war<br />
gleich tot. Ich muss nach Hause und in die Schule, auch im<br />
Nachthemd.“ Nun lacht sie und das gerade noch spürbare<br />
Heimweh ist vergessen, aber es kommt wieder. Das Heimweh<br />
nach zu Hause gehört zu den wenigen Bestandteilen im<br />
Gedächtnis, die der Demenzkranke zu vergessen vergisst.<br />
In dem großen hellen Lebensraum mit Wohnzimmeratmosphäre<br />
werden die Mahlzeiten nicht nur eingenommen,<br />
sondern in der angrenzenden offenen Küche auch unter Anleitung<br />
zubereitet. Der einzige Mann unter 23 Frauen gehört<br />
auch zum Küchendienst. Die Frauen werden zu den Arbeiten<br />
im Haushalt, soweit möglich, mit ihren verbliebenen<br />
Fähigkeiten herangezogen. Abwaschen, Kochen, Spülen<br />
sind elementare Erfolgserlebnisse für ihr Selbstwertgefühl.<br />
Der strukturierte Tageslauf der Bewohner stärkt die Zusam-<br />
mengehörig-<br />
keit der Gemeinschaft.<br />
Nicht für,<br />
sondern mit<br />
dem Schutzbefohlenen<br />
tätig werden,<br />
das ist Bestandteil<br />
des<br />
milieutherapeuthischen<br />
Konzeptes<br />
für den Umgang<br />
mit den<br />
Verwirrten.<br />
In diesem<br />
Leitfaden für<br />
die Betreuung<br />
ist eine<br />
Vielzahl von<br />
Hinweisen<br />
Der einzige Mann unter 23 Frauen<br />
festgelegt: Ihre<br />
Umsetzung<br />
erläutert Anne<br />
Alhäuser als beteiligte Verfasserin. Erreicht werden soll ein<br />
Höchstmaß an noch möglicher Lebensqualität. Dazu gehört<br />
Zuwendung und Nähe neben einer oft notwendigen Distanz.<br />
Die Emotionen der Verwirrten überdauern lange den zunehmenden<br />
Verlust des Gedächtnisses. Die Lebensgeschichte<br />
der alten Menschen mit ihren früheren Fähigkeiten muss<br />
kennengelernt und in die Betreuung eingebracht werden.<br />
Um Antworten zu bekommen, müssen vom Personal Fragen<br />
mit einfacher Wortwahl gestellt werden. Ganz wichtig<br />
auch der Kontakt mit den Angehörigen, die gern in den<br />
Heimalltag einbezogen werden.<br />
In beiden Wohngruppen erfolgt eine 24-Stunden-Betreuung.<br />
Dabei werden in Fällen beginnender Erkrankung noch<br />
vorhandene Fähigkeiten trainiert. Für jede Wohneinheit ist<br />
ein Basisteam zuständig, das in drei Schichten arbeitet.<br />
Das gesamte Wohnkonzept ist den Bedürfnissen der Demenzkranken<br />
angepasst. Die Bewohner unter sich können<br />
sich in ihrer Gruppe als homogene Familie fühlen. Aggressionen<br />
der Schutzbefohlenen, die nie auszuschließen sind,<br />
können im geschützten Raum niedrig gehalten werden.<br />
Ihr krankheitsbedingter Bewegungsdrang kann in langen<br />
Rundgängen im Wohnbereich befriedigt werden. Ein Rest<br />
von Freiheit ist geblieben: Die Eingangstür des Hauses ist<br />
nicht verschlossen. Zu dieser verbliebenen Freiheit der Bewohner<br />
sagt Anne Alhäuser: „Die Tür abschließen, um die<br />
Bewohner am ,Weglaufen‘ zu hindern, ist rechtlich gesehen<br />
eine Freiheitsberaubung, die nur dann erlaubt ist, wenn sie<br />
von einem Facharzt und dem Gericht genehmigt ist. Für unsere<br />
Rechtsprechung ist der Schutz der persönlichen Freiheit<br />
des Einzelnen ein höheres Gut als das durchaus berech-<br />
32 durchblick 1/<strong>2009</strong>