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2009-01

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Leben<br />

Die Frauen leben in ihrer Wohngruppe wie eine große Familie.<br />

Später, inzwischen am Mittagstisch, höre ich einer<br />

Bewohnerin zu, die im Siegerländer Dialekt spricht. Ich<br />

gebe mit meinen Kenntnissen an und zitiere: „Ka da dat da?<br />

Dat ka dat!“ und die Siegerländerin ergänzt: „Dat dat dat<br />

ka!“ Da lachen wir zusammen. Aber dann wird es traurig.<br />

„Ich muss jetzt schnell nach Hause“, sagt die Tischnachbarin<br />

mir gegenüber, die schon zwei Jahre zur „Insel“ gehört<br />

und früher Lehrerin war. „Aber mit dem Auto geht es nicht,<br />

weil es glatt ist.“ Und dann kommt unvermittelt der Satz:<br />

„Der Vater wollte zum Bus. Er wurde überfahren und war<br />

gleich tot. Ich muss nach Hause und in die Schule, auch im<br />

Nachthemd.“ Nun lacht sie und das gerade noch spürbare<br />

Heimweh ist vergessen, aber es kommt wieder. Das Heimweh<br />

nach zu Hause gehört zu den wenigen Bestandteilen im<br />

Gedächtnis, die der Demenzkranke zu vergessen vergisst.<br />

In dem großen hellen Lebensraum mit Wohnzimmeratmosphäre<br />

werden die Mahlzeiten nicht nur eingenommen,<br />

sondern in der angrenzenden offenen Küche auch unter Anleitung<br />

zubereitet. Der einzige Mann unter 23 Frauen gehört<br />

auch zum Küchendienst. Die Frauen werden zu den Arbeiten<br />

im Haushalt, soweit möglich, mit ihren verbliebenen<br />

Fähigkeiten herangezogen. Abwaschen, Kochen, Spülen<br />

sind elementare Erfolgserlebnisse für ihr Selbstwertgefühl.<br />

Der strukturierte Tageslauf der Bewohner stärkt die Zusam-<br />

mengehörig-<br />

keit der Gemeinschaft.<br />

Nicht für,<br />

sondern mit<br />

dem Schutzbefohlenen<br />

tätig werden,<br />

das ist Bestandteil<br />

des<br />

milieutherapeuthischen<br />

Konzeptes<br />

für den Umgang<br />

mit den<br />

Verwirrten.<br />

In diesem<br />

Leitfaden für<br />

die Betreuung<br />

ist eine<br />

Vielzahl von<br />

Hinweisen<br />

Der einzige Mann unter 23 Frauen<br />

festgelegt: Ihre<br />

Umsetzung<br />

erläutert Anne<br />

Alhäuser als beteiligte Verfasserin. Erreicht werden soll ein<br />

Höchstmaß an noch möglicher Lebensqualität. Dazu gehört<br />

Zuwendung und Nähe neben einer oft notwendigen Distanz.<br />

Die Emotionen der Verwirrten überdauern lange den zunehmenden<br />

Verlust des Gedächtnisses. Die Lebensgeschichte<br />

der alten Menschen mit ihren früheren Fähigkeiten muss<br />

kennengelernt und in die Betreuung eingebracht werden.<br />

Um Antworten zu bekommen, müssen vom Personal Fragen<br />

mit einfacher Wortwahl gestellt werden. Ganz wichtig<br />

auch der Kontakt mit den Angehörigen, die gern in den<br />

Heimalltag einbezogen werden.<br />

In beiden Wohngruppen erfolgt eine 24-Stunden-Betreuung.<br />

Dabei werden in Fällen beginnender Erkrankung noch<br />

vorhandene Fähigkeiten trainiert. Für jede Wohneinheit ist<br />

ein Basisteam zuständig, das in drei Schichten arbeitet.<br />

Das gesamte Wohnkonzept ist den Bedürfnissen der Demenzkranken<br />

angepasst. Die Bewohner unter sich können<br />

sich in ihrer Gruppe als homogene Familie fühlen. Aggressionen<br />

der Schutzbefohlenen, die nie auszuschließen sind,<br />

können im geschützten Raum niedrig gehalten werden.<br />

Ihr krankheitsbedingter Bewegungsdrang kann in langen<br />

Rundgängen im Wohnbereich befriedigt werden. Ein Rest<br />

von Freiheit ist geblieben: Die Eingangstür des Hauses ist<br />

nicht verschlossen. Zu dieser verbliebenen Freiheit der Bewohner<br />

sagt Anne Alhäuser: „Die Tür abschließen, um die<br />

Bewohner am ,Weglaufen‘ zu hindern, ist rechtlich gesehen<br />

eine Freiheitsberaubung, die nur dann erlaubt ist, wenn sie<br />

von einem Facharzt und dem Gericht genehmigt ist. Für unsere<br />

Rechtsprechung ist der Schutz der persönlichen Freiheit<br />

des Einzelnen ein höheres Gut als das durchaus berech-<br />

32 durchblick 1/<strong>2009</strong>

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