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MOBILITÄT<br />
FOTO ZVG<br />
In Ihrem Buch gehen Sie besonders<br />
auf die Überlastung der<br />
Grenzgänger in Luxemburg ein,<br />
die ihr Privat- und Berufsleben<br />
nur schwer miteinander vereinen<br />
können. Was zeigt Ihre<br />
Studie?<br />
Guillaume Devron: Es ist eine<br />
Langzeitstudie über Mobilität.<br />
Laut OECD hat sich die durchschnittliche<br />
Arbeitszeit in der<br />
Schweiz seit den 90er-Jahren um<br />
12 Prozent verringert. Wir arbeiten<br />
immer weniger, doch Burnouts<br />
und Stress werden immer häufiger.<br />
Es geht darum, den richtigen<br />
Rhythmus zu finden. Mein Buch<br />
empfiehlt, einen Gang zurückzuschalten<br />
und Pausen einzulegen.<br />
Die Beschleunigung stellt eine<br />
neue Problematik dar, bei der die<br />
Zeit – wie andere Ressourcen auch<br />
– zum seltenen Gut wird. Daher<br />
habe ich nicht nur das Familienund<br />
Berufsleben in meiner Studie<br />
untersucht, sondern auch die<br />
Raum-Zeit-Komponente berücksichtigt.<br />
Das Thema Zeit kommt<br />
in der Forschung zu kurz und<br />
sollte in der öffentlichen Politik<br />
klar Eingang finden.<br />
Was ist typisch für die Befragten<br />
in Ihrer Studie?<br />
Für meine Studie habe ich Pendler<br />
als Extremfall gewählt, da sie unter<br />
dem grössten Zeitdruck stehen<br />
und für die Situation besonders<br />
kennzeichnend sind. In diesem<br />
Falle sind es Grenzgänger aus Luxemburg,<br />
die im Durchschnitt jeden<br />
Tag 45 Kilometer zu ihrem Arbeitsplatz<br />
fahren, in einer Paarbeziehung<br />
leben, in Vollzeit oder zu 80<br />
Prozent arbeiten und mindestens<br />
zwei minderjährige Kinder haben.<br />
Sie leben wie auf einem Vulkan,<br />
ihre Belastung ist verständlicherweise<br />
ungeheuer gross.<br />
«Die Hektik ist enorm, aber wir<br />
haben uns schliesslich dafür<br />
entschieden», meint einer der<br />
Grenzgänger aus Luxemburg.<br />
Warum, meinen Sie, haben sie<br />
sich diesem Druck freiwillig<br />
ausgesetzt?<br />
Diese Personen leben meist in<br />
einem Einfamilienhaus auf dem<br />
Land. Die Immobilienpreise in<br />
Frankreich und Belgien sind niedriger<br />
und die Einkommen in Luxemburg<br />
attraktiver. Die Pendler<br />
setzen also auf räumliche Mobilität.<br />
Vermeintlich geniessen sie<br />
ideale Lebensumstände, leben<br />
aber ständig unter einem absoluten<br />
Zeitdruck. Das ist ein Paradox<br />
der Mobilität.<br />
Und die Autofahrer sind am<br />
schlechtesten dran...<br />
Die Pendler, die öffentliche Verkehrsmittel<br />
für den Weg nutzen,<br />
haben eine kleine Ruhepause. Einen<br />
Moment des Innehaltens, den<br />
sie schätzen und auf den sie nicht<br />
verzichten möchten. Durch eine<br />
«Die Pendler leben wie auf<br />
einem Vulkan»<br />
Guillaume Drevon<br />
semantische Analyse der Gespräche<br />
haben wir festgestellt, dass die<br />
Autofahrer mit ihrer Lage sehr unzufrieden<br />
sind. Schuld daran ist<br />
der Unsicherheitsfaktor in ihrer<br />
Zeitplanung, sprich die Ungewissheit<br />
ihrer Pünktlichkeit. Sie nehmen<br />
daher Umwege in Kauf und<br />
wählen statt staubelasteter Autobahnen<br />
Nebenstrecken. Sie wollen<br />
nicht unbedingt Zeit sparen, sondern<br />
sicher sein, dass sie pünktlich<br />
ankommen.<br />
Welche alternativen Strategien<br />
verwenden die Pendler noch?<br />
Sie richten ihren Zeitplan nach der<br />
Verkehrsdichte ein, sprechen sich<br />
mit ihrem Partner ab und stellen<br />
Hilfskräfte, wie beispielsweise<br />
Kindermädchen oder Haushaltshilfen,<br />
ein. Eine weitere, radikale<br />
Vorgehensweise ist, die Arbeitszeit<br />
zu verringern. Hier ist es oft die<br />
Frau, die weniger arbeitet. Auch<br />
Technik wird strategisch eingesetzt,<br />
von einem gemeinsamen<br />
Terminplan in Google Drive über<br />
Whatsapp- Gruppen bis hin zu<br />
Facebook. Bei den Familien dreht<br />
sich alles darum, die familiären<br />
Termine einzuhalten, wie zum<br />
Beispiel die Kinder zur Schule zu<br />
bringen, das Essen zu machen und<br />
anderes. Sie haben keinerlei Spielraum<br />
und der kleinste Zwischenfall<br />
bringt ihren Zeitplan komplett<br />
durcheinander.<br />
Was geschieht also?<br />
Die Familien müssen ihr soziales<br />
Hilfsnetz aktivieren. Einige leben<br />
in der Nähe ihrer Eltern, andere<br />
nehmen zu Fahrgemeinschaften<br />
mit Nachbarn oder Freunden Zuflucht.<br />
Eine solche Unterstützung<br />
wird regelmässig oder gelegentlich<br />
in Anspruch genommen.<br />
Bieten sich für diese Pendler<br />
noch andere Lösungen an als<br />
ein Umzug?<br />
Es ist eine sehr schwierige Lebensphase,<br />
beispielsweise wenn die<br />
Kinder noch klein sind. Aber es ist<br />
eine vorübergehende Phase. Die<br />
Kinder werden grösser, selbstständiger<br />
und benötigen weniger<br />
Betreuung.<br />
Also, die Zähne zusammenbeis<br />
sen und warten, bis es<br />
vorüber ist?<br />
Das ist die grosse Frage der öffentlichen<br />
Politik. Die Eltern organisieren<br />
ihre Zeit um feste Termine<br />
der Aktivitäten ihrer Kinder herum.<br />
Letztlich geben die Kinder den<br />
Rhythmus vor. Ein Vorschlag wäre,<br />
eventuell die Unterrichtszeiten<br />
flexibler zu gestalten. Man stelle<br />
sich vor, man könnte die Kinder<br />
zwischen 8 und 9 Uhr zur Schule<br />
bringen und nicht zu einem festen<br />
Zeitpunkt. Das hiesse, enorm an<br />
Lebensqualität zu gewinnen. ◆<br />
«Proposition pour une rythmologie de la<br />
mobilité et des sociétés contemporaines»<br />
vom Guillaume Drevon, éditions Alphil-<br />
Presses universitaires suisses. (Buch ist nur<br />
auf Französisch verfügbar).<br />
<strong>Juni</strong> <strong>2019</strong> | touring 33