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Touring Juni 2019

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MOBILITÄT<br />

FOTO ZVG<br />

In Ihrem Buch gehen Sie besonders<br />

auf die Überlastung der<br />

Grenzgänger in Luxemburg ein,<br />

die ihr Privat- und Berufsleben<br />

nur schwer miteinander vereinen<br />

können. Was zeigt Ihre<br />

Studie?<br />

Guillaume Devron: Es ist eine<br />

Langzeitstudie über Mobilität.<br />

Laut OECD hat sich die durchschnittliche<br />

Arbeitszeit in der<br />

Schweiz seit den 90er-Jahren um<br />

12 Prozent verringert. Wir arbeiten<br />

immer weniger, doch Burnouts<br />

und Stress werden immer häufiger.<br />

Es geht darum, den richtigen<br />

Rhythmus zu finden. Mein Buch<br />

empfiehlt, einen Gang zurückzuschalten<br />

und Pausen einzulegen.<br />

Die Beschleunigung stellt eine<br />

neue Problematik dar, bei der die<br />

Zeit – wie andere Ressourcen auch<br />

– zum seltenen Gut wird. Daher<br />

habe ich nicht nur das Familienund<br />

Berufsleben in meiner Studie<br />

untersucht, sondern auch die<br />

Raum-Zeit-Komponente berücksichtigt.<br />

Das Thema Zeit kommt<br />

in der Forschung zu kurz und<br />

sollte in der öffentlichen Politik<br />

klar Eingang finden.<br />

Was ist typisch für die Befragten<br />

in Ihrer Studie?<br />

Für meine Studie habe ich Pendler<br />

als Extremfall gewählt, da sie unter<br />

dem grössten Zeitdruck stehen<br />

und für die Situation besonders<br />

kennzeichnend sind. In diesem<br />

Falle sind es Grenzgänger aus Luxemburg,<br />

die im Durchschnitt jeden<br />

Tag 45 Kilometer zu ihrem Arbeitsplatz<br />

fahren, in einer Paarbeziehung<br />

leben, in Vollzeit oder zu 80<br />

Prozent arbeiten und mindestens<br />

zwei minderjährige Kinder haben.<br />

Sie leben wie auf einem Vulkan,<br />

ihre Belastung ist verständlicherweise<br />

ungeheuer gross.<br />

«Die Hektik ist enorm, aber wir<br />

haben uns schliesslich dafür<br />

entschieden», meint einer der<br />

Grenzgänger aus Luxemburg.<br />

Warum, meinen Sie, haben sie<br />

sich diesem Druck freiwillig<br />

ausgesetzt?<br />

Diese Personen leben meist in<br />

einem Einfamilienhaus auf dem<br />

Land. Die Immobilienpreise in<br />

Frankreich und Belgien sind niedriger<br />

und die Einkommen in Luxemburg<br />

attraktiver. Die Pendler<br />

setzen also auf räumliche Mobilität.<br />

Vermeintlich geniessen sie<br />

ideale Lebensumstände, leben<br />

aber ständig unter einem absoluten<br />

Zeitdruck. Das ist ein Paradox<br />

der Mobilität.<br />

Und die Autofahrer sind am<br />

schlechtesten dran...<br />

Die Pendler, die öffentliche Verkehrsmittel<br />

für den Weg nutzen,<br />

haben eine kleine Ruhepause. Einen<br />

Moment des Innehaltens, den<br />

sie schätzen und auf den sie nicht<br />

verzichten möchten. Durch eine<br />

«Die Pendler leben wie auf<br />

einem Vulkan»<br />

Guillaume Drevon<br />

semantische Analyse der Gespräche<br />

haben wir festgestellt, dass die<br />

Autofahrer mit ihrer Lage sehr unzufrieden<br />

sind. Schuld daran ist<br />

der Unsicherheitsfaktor in ihrer<br />

Zeitplanung, sprich die Ungewissheit<br />

ihrer Pünktlichkeit. Sie nehmen<br />

daher Umwege in Kauf und<br />

wählen statt staubelasteter Autobahnen<br />

Nebenstrecken. Sie wollen<br />

nicht unbedingt Zeit sparen, sondern<br />

sicher sein, dass sie pünktlich<br />

ankommen.<br />

Welche alternativen Strategien<br />

verwenden die Pendler noch?<br />

Sie richten ihren Zeitplan nach der<br />

Verkehrsdichte ein, sprechen sich<br />

mit ihrem Partner ab und stellen<br />

Hilfskräfte, wie beispielsweise<br />

Kindermädchen oder Haushaltshilfen,<br />

ein. Eine weitere, radikale<br />

Vorgehensweise ist, die Arbeitszeit<br />

zu verringern. Hier ist es oft die<br />

Frau, die weniger arbeitet. Auch<br />

Technik wird strategisch eingesetzt,<br />

von einem gemeinsamen<br />

Terminplan in Google Drive über<br />

Whatsapp- Gruppen bis hin zu<br />

Facebook. Bei den Familien dreht<br />

sich alles darum, die familiären<br />

Termine einzuhalten, wie zum<br />

Beispiel die Kinder zur Schule zu<br />

bringen, das Essen zu machen und<br />

anderes. Sie haben keinerlei Spielraum<br />

und der kleinste Zwischenfall<br />

bringt ihren Zeitplan komplett<br />

durcheinander.<br />

Was geschieht also?<br />

Die Familien müssen ihr soziales<br />

Hilfsnetz aktivieren. Einige leben<br />

in der Nähe ihrer Eltern, andere<br />

nehmen zu Fahrgemeinschaften<br />

mit Nachbarn oder Freunden Zuflucht.<br />

Eine solche Unterstützung<br />

wird regelmässig oder gelegentlich<br />

in Anspruch genommen.<br />

Bieten sich für diese Pendler<br />

noch andere Lösungen an als<br />

ein Umzug?<br />

Es ist eine sehr schwierige Lebensphase,<br />

beispielsweise wenn die<br />

Kinder noch klein sind. Aber es ist<br />

eine vorübergehende Phase. Die<br />

Kinder werden grösser, selbstständiger<br />

und benötigen weniger<br />

Betreuung.<br />

Also, die Zähne zusammenbeis<br />

sen und warten, bis es<br />

vorüber ist?<br />

Das ist die grosse Frage der öffentlichen<br />

Politik. Die Eltern organisieren<br />

ihre Zeit um feste Termine<br />

der Aktivitäten ihrer Kinder herum.<br />

Letztlich geben die Kinder den<br />

Rhythmus vor. Ein Vorschlag wäre,<br />

eventuell die Unterrichtszeiten<br />

flexibler zu gestalten. Man stelle<br />

sich vor, man könnte die Kinder<br />

zwischen 8 und 9 Uhr zur Schule<br />

bringen und nicht zu einem festen<br />

Zeitpunkt. Das hiesse, enorm an<br />

Lebensqualität zu gewinnen. ◆<br />

«Proposition pour une rythmologie de la<br />

mobilité et des sociétés contemporaines»<br />

vom Guillaume Drevon, éditions Alphil-<br />

Presses universitaires suisses. (Buch ist nur<br />

auf Französisch verfügbar).<br />

<strong>Juni</strong> <strong>2019</strong> | touring 33

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