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Loccumer Pelikan 3/2019

Biografien entdecken – Vorbildern begegnen

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praktisch 21<br />

OLIVER FRIEDRICH<br />

GELESEN:<br />

Saša Stanišić: Herkunft<br />

Der im ehemaligen Jugoslawien geborene Saša Stanišić erzählt in seinem Roman<br />

„Herkunft“ von biografischen Wurzeln, Aufbrüchen, Neuanfängen und Orten, die<br />

ein Zuhause sind. Gegenwart und Zukunft, Erinnerungen und aktuelle Eindrücke<br />

verschmelzen dabei in seinem Buch kaleidoskopartig zu einer literarischen Form, die<br />

mehr als eine Autobiografie und etwas anderes als ein Roman ist: „Fiktion, wie ich<br />

sie mir denke, sagte ich, ist ein offenes System aus Erfindung, Wahrnehmung und<br />

Erinnerung, das sich am wirklich Geschehenen reibt.“<br />

In dieser Gemengelage folgen die Leser*innen dem Autor in seine jugoslawische<br />

Heimat, in der er seine Kindheit verbrachte und in die er als Familienvater und<br />

erfolgreicher Autor zurückkehrt, um die erkrankte Großmutter wiederzusehen.<br />

Stanišić erzählt von seiner Ankunft in Heidelberg, von der Tankstelle, die als Treffpunkt<br />

für Jugendliche besondere Bedeutung hat, und von Verunsicherungen in<br />

einer neuen Umgebung. Er beschreibt seine ersten Begegnungen mit Hölderlin,<br />

erzählt von interkulturellen Konflikten, Hoffnungen und Sehnsüchten, vom Vater-<br />

Werden und dem Leben als Schriftsteller in Hamburg. Der Blick zurück auf das<br />

verlorene Jugoslawien bleibt dabei stets präsent: die Erinnerungen an seinen<br />

Geburtsort Višegrad, wie er früher an der Drina angelte, und von Oskoruša, dem<br />

Dorf, in dem seine Großmutter lebte, das er allerdings erst 2009 kennenlernt.<br />

Saša Stanišić<br />

Herkunft<br />

Luchterhand Literaturverlag,<br />

München <strong>2019</strong>,<br />

ISBN 978-3-630-87473-9<br />

Hardcover, 368 Seiten,<br />

22,00 €.<br />

„Jedes Zuhause ist ein zufälliges: Dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, da drüben<br />

vermachst du deine Niere der Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen<br />

kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will.“<br />

DR. HEIMAT<br />

Fragt mich jemand, was Heimat für mich bedeutet,<br />

erzähle ich von Dr. Heimat, dem Vater<br />

meiner ersten Amalgam-Füllung.<br />

Kennengelernt habe ich Dr. Heimat an einem<br />

heißen Tag im Herbst 1992 in seinem Emmertsgrunder<br />

Garten. Ich war auf der Höhe des<br />

Gartens auf der anderen Straßenseite, da hörte<br />

ich jemanden rufen, hörte einen Gruß. Ein<br />

alter Mann war es, Schnurrbart und Speedo-<br />

Badehose, der den Rasen mit einem Schlauch<br />

wässerte und mir zuwinkte.<br />

Muss man skeptisch werden, wenn einen<br />

Senioren in Speedo-Badehose grüßen? Ich<br />

grüßte zurück. Er suchte über den Zaun das Gespräch,<br />

fand wenig – mein Deutsch war miserabel.<br />

Dass er freundlich grüßte, über die Straße<br />

hinweg, genügte erst mal auch.<br />

Dr. Heimat trug seinen Schnurrbart als<br />

Schnurrbart, also einen Clark-Gable-Strich,<br />

diese heute leider fast ausgestorbene Gesichtshaarrasse.<br />

Mit fünfzehn fand ich den Schnurrbart<br />

Furcht und zugleich Vertrauen einflößend,<br />

er passte zu meinem Bild von Deutschland.<br />

Die Straße, in der sein Rasen sehr weich<br />

aussah, sein Haus groß und sein Saab auf eine<br />

gute Weise alt, war die schönste Straße des<br />

Emmertsgrunds, mit den meisten Alarmanlagen.<br />

Eine Familie hatte Dr. Heimat nicht, was ich<br />

<strong>Loccumer</strong> <strong>Pelikan</strong> | 3/ <strong>2019</strong>

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