Loccumer Pelikan 3/2019
Biografien entdecken – Vorbildern begegnen
Biografien entdecken – Vorbildern begegnen
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4<br />
grundsätzlich<br />
INGRID SCHOBERTH<br />
„Wenn ich sagen soll, wer ich bin,<br />
dann erzähle ich meine Geschichte“ 1<br />
Vorbilder und Biografien bzw. Lebensgeschichten<br />
„Was tun Sie“, wurde Herr K. gefragt, „wenn Sie einen Menschen lieben?“<br />
„Ich mache einen Entwurf von ihm“, sagte Herr K., „und sorge, dass er ihm ähnlich wird.“<br />
„Wer? Der Entwurf?“ „Nein“, sagte Herr K., „der Mensch.“ 2<br />
Biografien und Lebensgeschichte<br />
in Geschichten 12<br />
Wenn es um Vorbilder geht, dann geht es notwendigerweise<br />
auch um Biografien. Es geht um<br />
Lebensgeschichten, die sich gleichsam aus einzelnen<br />
Geschichten zusammensetzen, und es<br />
geht um das, was die Kohärenz der je eigenen<br />
Geschichte ausmacht. Diese Stimmigkeit der<br />
vielen Erfahrungen in Geschichten charakterisiert<br />
eine Biografie; sie kann freilich sehr unterschiedlich<br />
wahrgenommen werden. Dietrich<br />
Ritschl hat das in eine eindrückliche Metapher<br />
gefasst. Er vergleicht die Wahrnehmung einer<br />
je eigenen Lebensgeschichte mit einem Kaleidoskop<br />
3 : Der Blick durch die Öffnung gibt<br />
ein Bild frei, das aus einzelnen Steinchen bunt<br />
und bewegt zusammengesetzt ist. Aber jede<br />
Biografie zeigt nicht nur ein einziges Bild – die<br />
Schwierigkeit und Dialektik ist schon bei Bertolt<br />
Brecht in der bekannten Geschichte vom<br />
Herrn Keuner prägnant benannt: Kann und darf<br />
man sich ein Bild von einem anderen Menschen<br />
oder sich selbst machen, um ihn danach zu for-<br />
1 Ritschl, Zur Logik der Theologie, 45.<br />
2<br />
Brecht, Geschichten vom Herrn Keuner, 33.<br />
3<br />
Ritschl, Bildersprache und Argumente, 254.<br />
men? Der Vergleich mit dem Kaleidoskop führt<br />
vor Augen, dass der Blick immer wieder ein anderer<br />
werden kann, um die Lebendigkeit und<br />
Dynamik einer Lebensgeschichte zu erfassen.<br />
So wird die je einzelne Lebens-Geschichte in<br />
vielen Geschichten erkennbar; das Drehen des<br />
Kaleidoskops lässt ein neues Bild aus den gleichen<br />
Steinchen entstehen, so wie es für jeden,<br />
der auf Biografien stößt, wahrnehmbar und vernehmbar<br />
wird. Das Drehen steht für die je neue<br />
Begegnung mit Geschichten: Biografien erfordern<br />
Zuhören, Nachgehen von Geschichten in<br />
Gedanken, Einlassen auf sie im Gespräch und<br />
vieles andere.<br />
Die Dynamik der Lebensgeschichten kommt<br />
gerade dann zum Tragen, wenn sie erzählt<br />
werden. Dietrich Ritschl betont: „Wenn ich sagen<br />
soll, wer ich bin, dann erzähle ich meine<br />
Geschichte.“ 4 Keine Geschichte wird immer<br />
gleich erzählt; und keine noch so marginale<br />
Geschichte ist ohne ihre eigene Würde. Die Unverwechselbarkeit<br />
und Unvertretbarkeit auch<br />
scheinbar unbedeutender Lebensgeschichten<br />
und sogar bislang ungehörte und verbannte Lebensgeschichten<br />
gewinnen im Erzählen ihren<br />
Ausdruck und ihre Kontur. Das Erzählen von Le-<br />
4<br />
Ritschl, Zur Logik der Theologie, 45.<br />
<strong>Loccumer</strong> <strong>Pelikan</strong> | 3/ <strong>2019</strong>