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12 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 297 · 2 1./22. Dezember 2019<br />
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Berlin<br />
Harmsens Berlin<br />
Du liebe<br />
Krücke!<br />
Werkstätten für ein<br />
Torsten Harmsen<br />
denkt über die Irrationalität<br />
des Weihnachtsfestes nach.<br />
Wozu braucht man eijentlich ’n<br />
Weihnachtsboom?“, fragt<br />
mein innerer <strong>Berliner</strong>,als ich schwitzend<br />
zu Hause ankomme,ein grünes<br />
Nadelmonstrum auf der Schulter,<br />
das in einem Netz gefangen ist.<br />
Mensch, der stellt Fragen! Kümmert<br />
sich um jeden Dreck. Die Antwort<br />
lautet: So ein Baum gehört einfach<br />
zum Fest dazu, obwohl man jedes<br />
Jahr erneut stöhnt. Denn man muss<br />
das Ding ja erst mal besorgen. Anschließend<br />
buckelt man die Kiste mit<br />
dem Ständer und den Kugeln aus<br />
dem Keller,obwohl man sie doch gerade<br />
erst runtergebracht hatte.<br />
„Dann säbelste ewich am Stamm<br />
rum, damit dit Ding in Stända passt,<br />
kriegst verharzte Footen“, setzt mein<br />
innerer <strong>Berliner</strong> fort. „Dann<br />
schmückste drei Stunden lang. Alle<br />
glotzen kritisch: Wat is’n dit für ’ne<br />
Krücke? Du lieba Jott! Dann steht dit<br />
Ding zwee Wochen. Keena kiekt<br />
mehr hin. De Katze springt nach de<br />
Kureln. Der Hund hebt dit Been am<br />
Boom, weil er denkt, er is im Wald.<br />
De Zweige wern trocken und hängen<br />
runta. Wenn de niest, nadelts! Am<br />
Ende fliecht dit Janze ausm Fensta<br />
und erschlächt Frau Meier.Wat haste<br />
nu davon jehabt? NurÄrjer!“<br />
Gut, zugegeben, die ganze Sache<br />
ist schon irgendwie irrational. Nehmen<br />
wir nur mal die Umwelt. Das<br />
Jahr über führen wir die Klimadebatte:<br />
Dürfen wir noch fliegen? Sollen<br />
wir das Fleischessen einstellen,<br />
weil die Kühe zu viel pupsen? Ja,dürfen<br />
wir überhaupt noch atmen?<br />
Und dann werden auf einen<br />
Schlag 30 Millionen Bäume abgesäbelt,<br />
allein für Deutschland. Die<br />
meisten vonihnen wachsen in riesigen<br />
Monokulturen unter dem Einsatz<br />
von Pestiziden. Der Länge nach<br />
aneinandergelegt reichen sie einmal<br />
um die Erde. Nach dem Fest startet<br />
die große Vernichtungsaktion. Elefanten<br />
und andereTiere bekommen<br />
die Bäume zum Fressen, die nicht<br />
verkauft wurden. Die anderen werden<br />
zu Hackschnitzeln verarbeitet<br />
und verheizt. 500 Bäume sollen tausend<br />
Liter Heizöl ersetzen.<br />
Na, immerhin! Das Gewissen ist<br />
beruhigt. Mit meinem Weihnachtsbaum<br />
sorge ich dafür,dass zwei Liter<br />
Heizöl gespartwerden.Weihnachten<br />
kann losgehen! Halleluja!<br />
Bleibt noch der Geschenkewahn.<br />
Auch irrational! Im Grunde warten<br />
wir im Advent (adventus Domini)<br />
gar nicht auf die Ankunft des Herrn,<br />
sondernauf die des Paketboten. Der<br />
bringt Unmengen an Verpackungen<br />
mit. Die gelieferten Objekte werden<br />
davon befreit und in neue Hüllen<br />
(Geschenkpapier) verpackt.<br />
Geschenkpapier! Jemand hat ausgerechnet,<br />
dass 8,7 Millionen Kilogramm<br />
zusammenkämen, wenn jeder<br />
erwachsene Deutsche im Jahr<br />
nur eine einzige Rolle verbrauche.<br />
Bei der Herstellung werde so viel<br />
Energie verbraucht, dass man damit<br />
eine Kleinstadt mit 12 500 Einwohnernein<br />
Jahr lang versorgen könnte.<br />
Ein aus irgendwelchen Gründen<br />
verzweifelter Kollege sagte mir eben,<br />
er wolle sich selbst in Geschenkpapier<br />
einwickeln und beim Schrottwichteln<br />
verschenken lassen, „an irgendwen“.<br />
Auch nicht gerade ein guter<br />
Beitrag für die Umwelt. So viel<br />
Geschenkpapier!<br />
Und die Lösung? Eine schwäbische<br />
Bekannte berichtete einmal,<br />
dass man bei ihr zu Hause nach dem<br />
Fest das Geschenkpapier bügle, um<br />
es beim nächsten Mal wiederzuverwenden.<br />
Da wird auch mein innerer<br />
<strong>Berliner</strong> wieder wach. „Super!“, ruft<br />
er,„Jeschenkpapier büjeln! Jeile Idee!<br />
Die Schwaben machen dit richtich.<br />
Die janzeWelt wird untajehn –aber<br />
Stuttjart wird übalehm!“ Gott sei<br />
Dank ist auch schon halb Berlin von<br />
schwäbischen Geschenkpapierbüglernbesetzt.<br />
DasKlima ist gerettet!<br />
Berlin ist für junge Gründerinnen<br />
und Gründer die beliebteste<br />
Stadt in Deutschland, oder um es<br />
in der Sprache der Start-ups zu<br />
formulieren: ein Gründungs-Hotspot. In<br />
Zahlen: Fast 17 Prozent der in Deutschland<br />
existierenden Start-ups befinden sich in Berlin,<br />
das sind mehr als 1800 Firmen mit fast<br />
20 000 Mitarbeitern. Friedrichshain-Kreuzberg,<br />
Mitte und Pankow sind die Hochburgen<br />
unter den zwölf <strong>Berliner</strong> Bezirken. Die<br />
Im Jahre 2015 bemerkte Steve<br />
Döschner, dass es kein gutes<br />
Holzbett gab, das lokal produziert<br />
wurde. „Die meisten Betten von<br />
Möbelketten hatten sich nach fünf<br />
oder zehn Jahren abgenutzt, das<br />
Holz dafür musste um die halbe<br />
Welt verfrachtet werden“, sagt der<br />
Gründer des <strong>Berliner</strong>-Start-ups<br />
Kiezbett. Er entwarf mit der Designerin<br />
Kim LeRoux ein Vollholzbett.<br />
Dann startete er eine Crowdfunding-Kampagne,<br />
die 32 000<br />
Euro von Privatpersonen einsammelte<br />
und ihm die Finanzierung<br />
der ersten 50 Betten ermöglichte.<br />
DasUnternehmen Kiezbett verkauft<br />
Betten, die das Endprodukt<br />
einer lokalen Wertschöpfungskette<br />
Denkt man an grüne Start-ups,<br />
kommen einem Firmen in den<br />
Sinn, die dem Endverbraucher, insbesondere<br />
in der Gastronomie,<br />
nachhaltige Alternativen anbieten.<br />
Das Start-up Heldenmarkt zeigt<br />
aber, dass nachhaltige Ideen auch<br />
abseits von Konsum florieren können<br />
–als Plattform für Austausch,<br />
Vernetzung und Kooperation. Als<br />
Messe.Als Heldenmarkt eben.<br />
DieGeschichte dahinter geht so:<br />
Lovis Willenberg, der einen Plattenladen<br />
betreibt und Musik<br />
macht, will sich 2009 nachhaltige<br />
Sneaker aus England kaufen. Weil<br />
der Versand nur in größerer Stückzahl<br />
möglich ist, sitzt Willenberg<br />
Start-ups treten etwa als Dienstleister für<br />
Softwareservice und -entwicklung, Finanztechnologie<br />
oder Onlineshopping auf.<br />
In Berlin gibt es immer mehr Start-ups, die sich einem grünen und<br />
nachhaltigen Leitgedanken verschreiben<br />
Undsie werden zunehmend grüner.Einer<br />
Umfrage des Jahresberichts Deutscher Startup-Monitor<br />
zufolge wählen 43,6 Prozent der<br />
Start-up-Unternehmer grün, ein Plus von 21<br />
Prozent imVergleich zur Befragung von2018.<br />
Die FDP verlor zehn Punkte, holte nur noch<br />
rund 28 Prozent und landete auf Platz zwei.<br />
sind: Die Kiefern für die Betten<br />
stammen aus maximal 200 Kilometer<br />
entfernten Brandenburger Wäldern.<br />
Während der Vogelbrutzeit<br />
wird nicht gerodet. In regionalen<br />
Familienunternehmen wie der Sägewerkstatt<br />
und Tischlerei Pohl aus<br />
Züssow werden aus den Kiefern<br />
Holzteile, die später von der Stephanus<br />
Förderwerkstatt in Spandau<br />
zu Betten zusammengebaut<br />
werden. Die Entscheidung für<br />
solch einen Herstellungsweg sei<br />
eine bewusste,sagt Döschner.<br />
„Bei uns auf der Arbeit gibt es<br />
diesen Running Gag, dass ich immer<br />
mit dreckigen Fingernägeln<br />
ins Bürokomme“, erzählt er.Für jedes<br />
verkaufte Kiezbett pflanzt er<br />
Jeder Deutsche trinkt dem Statistik-Portal<br />
Statista zufolge mehr<br />
als 160 Liter Bohnenkaffee jährlich.<br />
Das sorgt für eine Menge Plastikmüll:<br />
2,8 Milliarden Plastik-Kaffeebecher<br />
werden hierzulande jährlich<br />
weggeworfen, schätzt das Umweltbundesamt.<br />
Allein in Berlin<br />
sind es jährlich 170 Millionen Plastikbecher.<br />
Hier setzt Kaffeeform an: Das<br />
Unternehmen schickt Flotten von<br />
Fahrradkurieren los, die den Kaffeesatz<br />
aus ausgewählten <strong>Berliner</strong><br />
Cafés und Röstereien sammeln.<br />
Dieser Abfall wird aber nicht weggeworfen,<br />
sondern gesiebt, getrocknet<br />
und nach Baden-Württemberg<br />
gebracht, wo er unter anderem<br />
mit Buchenspänen, Cellulose<br />
und Harzen angereichertwird.<br />
Es entsteht eine pressbare Masse.<br />
In der Nähe von Köln wird diese in<br />
einem Hitzedruckverfahren zu Tassen<br />
geformt. DasAngebot vonKaffeeform<br />
reicht von Espressotässchen<br />
bis zu Cappuccinotassen. Außerdem<br />
hat das Unternehmen<br />
auch einen Refill-Cup im Sortiment,<br />
also einen mitnehmbaren<br />
Becher, der überall aufgefüllt werden<br />
kann, wodurch Kaffeeverkäufer<br />
nicht mehr auf Plastikbecher für<br />
Kunden angewiesen sind.<br />
Das zeigt: Neugründer verfolgen heute immer<br />
öfter Geschäftsideen, die sich einem<br />
grünen und nachhaltigen Leitgedanken verschreiben<br />
–und wählen auch so.<br />
Sogenannte grüne Start-ups,also ressourcenschonende<br />
und umweltfreundliche Jungunternehmen,<br />
machen allein in Deutschland<br />
36 Prozent aller Start-ups aus.ImDeutschen<br />
Start-up-Monitor heißt es dazu: „Immer<br />
mehr Start-ups möchten einen gezielten<br />
Heldenmarkt für nachhaltige Ideen<br />
plötzlich auf Schuhkartons mit<br />
Ökoschuhen in verschiedenen<br />
Größen. Er beginnt, sie in seinem<br />
Plattenladen in der Oderberger<br />
Straße in Prenzlauer Berg zu verkaufen,<br />
merkt aber schnell, dass<br />
dies schwierig ist –und er einen Ort<br />
braucht, an dem er sich mit anderen<br />
nachhaltig denkenden Menschen<br />
vernetzen kann.<br />
DerHeldenmarkt geht als Messe<br />
für Nachhaltigkeit an den Start. Er<br />
bietet Verkaufsstände, Workshops,<br />
Vorträge und Konzerte, bringt Unternehmer,Verbraucher,<br />
Aktivisten<br />
und Hersteller miteinander in Kontakt.<br />
„Der erste Heldenmarkt 2009<br />
war eine relativ kleine Veranstal-<br />
Bäume für Betten<br />
Gründer Steve Döschner VOLKMAR OTTO (2)<br />
Tassen aus Kaffeesatz<br />
Julian Lechner gründete Kaffeeform.<br />
Gründer Lovis Willenberg<br />
FORUM FUTURA UG<br />
mit <strong>Berliner</strong> Schulklassen junge<br />
Bäume nach.<br />
Heute verkauft das Start-up<br />
etwa 30 Massivholzbetten im Monat.<br />
Sie kosten zwischen 900 und<br />
3000 Euro. „Das mag auf den ersten<br />
Blick viel erscheinen“, sagt<br />
Döschner. „Wenn man aber bedenkt,<br />
dass es ein ganzes Leben<br />
hält, ist das preiswert.“ Das Versprechen<br />
vom „Bett fürs Leben“<br />
kommt vor allem bei <strong>Berliner</strong>n gut<br />
an. Sieben von zehn Kiezbett-Kunden<br />
kommen aus der Hauptstadt,<br />
perspektivisch will das Unternehmen<br />
auch im süddeutschen Raum<br />
bekannter werden.<br />
Die Kunden seien Menschen<br />
mit „sozialem und ökologischem<br />
„Die Tassen sind bruchfest, für<br />
die Spülmaschine geeignet, wiegen<br />
kaum mehr als 100 Gramm –und<br />
riechen anfangs sogar noch nach<br />
dem Kaffee“, sagt Anika Paulus von<br />
Kaffeeform. Außerdem seien sie recycelbar.Das<br />
heißt: DieTassen und<br />
Becher lassen sich manuell zerkleinern<br />
und wieder zu neuen Tassen<br />
formen.<br />
Ausgangspunkt der Gründung<br />
vonKaffeeformwar das Produktdesign-Studium<br />
von Julian Lechner.<br />
Als Lechner während des Studiums<br />
merkte, dass er irre Mengen von<br />
Kaffee konsumierte,dachte er sich:<br />
Der übrig bleibende Kaffeesatz ist<br />
Beitrag zum Umwelt-, Klima- und Ressourcenschutz<br />
leisten.“ Sienähmen„eine Schlüsselfunktion<br />
ein, wenn es um die Lösung der<br />
großen Klima- und Nachhaltigkeitsherausforderungen<br />
der heutigen Zeit geht“, und sie<br />
leisteten Pionierarbeit.<br />
Wersich heute in Berlin umschaut, findet<br />
eine Fülle von Unternehmen, die Produkte<br />
aus einer lokalen Wertschöpfungskette beziehen,<br />
Ressourcen erschließen und recyclen<br />
und neben ökonomischen Überlegungen<br />
auch vom Glauben an eine bessere Welt getrieben<br />
werden.Vier vonihnen stellen wir vor.<br />
Bewusstsein“, die „ein kleines<br />
Stück die Welt verändern möchten“,<br />
heißt es auf der Website. An<br />
deren Alltagsrealitäten, zumindest<br />
in Berlin, hat sich auch Kiezbett<br />
zum Teil angepasst: Inzwischen<br />
gibt es neben dem Vollholzbett<br />
auch ein Stauraumbett mit ausziehbaren<br />
Seitenschubladen. „In<br />
Zeiten der steigenden <strong>Berliner</strong> Mieten<br />
wollten unsereKunden ein solches<br />
Stauraumbett, denn in kleinen<br />
Wohnungen fehlt nicht selten<br />
der Platz, um alles unterzubringen“,<br />
sagt Döschner.<br />
Kiezbett: Der Showroom in der Proskauer<br />
Straße 24,10247Berlin, ist geöffnetamDo<br />
14–19 Uhr und Fr 14–18 Uhr.kiezbett.com<br />
eine dermaßen kompakte Masse,<br />
dass man sie doch wiederverwerten<br />
müsse.Erwurde zum Gründer.<br />
„Das war damals wirklich eine Utopie,<br />
die über mehrere Jahre zur<br />
Realität wurde.“<br />
Es hat sich gelohnt: Nach eigenen<br />
Angaben hat Kaffeeform seit<br />
der Gründung 2015 mehr als<br />
100 000 Tassen verkauft. Die Becher<br />
gibt es in mehr als 150 europäischen<br />
Cafés und Röstereien,<br />
auch in Asien werden sie inzwischen<br />
verkauft.<br />
Kaffeeform: Choriner Straße 54,10435 Berlin,service@kaffeeform.com,kaffeeform.com<br />
tung im Postbahnhof“, erinnert<br />
sich Andrea Jakob von Heldenmarkt.<br />
„Da waren vielleicht etwas<br />
mehr als 50 Aussteller zu Gast.“<br />
Heute findet die Messe mehrmals<br />
im Jahr statt, 2019 waren es<br />
sieben, 2020 werden es voraussichtlich<br />
vier Messen sein. Für die<br />
Nachhaltigkeitsmesse setzt Willenberg<br />
auf wiederverwendbare Messebausysteme,<br />
etwa recycelbare<br />
Planen. Alte Flyer werden als Ausstellerausweise<br />
wiederverwertet,<br />
vergilbte Poster für Schaubilder<br />
und als Flipcharts eingesetzt.<br />
Nicht selten müssen Aussteller<br />
durch Zertifikate nachweisen, dass<br />
ihre Produkte wirklich umweltschonend<br />
hergestellt wurden. Besonders<br />
wichtig ist für Heldenmarkt<br />
die regionale Anbindung der Messen.<br />
Etwa zwei Drittel der Aussteller<br />
kämen aus dem Umland, was kurze<br />
Transportwege und eine umweltschonende<br />
Anreise ermögliche,<br />
heißt es aus dem Unternehmen.<br />
„Zudem funktioniert die Messe als<br />
Vernetzungsplattform, bei der sich<br />
Gleichgesinnte aus derselben Region<br />
kennenlernen oder Ideen für<br />
Initiativen entstehen“, sagt Andrea<br />
Jakob.<br />
Heldenmarkt: DieMesse für alle,die was besser<br />
machen wollen, Winsstraße 7, 10405 Berlin,post@heldenmarkt.de,heldenmarkt.de