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4 21./22. DEZEMBER 2019<br />
21./22. DEZEMBER 2019<br />
Aller Karten Anfang:<br />
Diese „Correspondenz-Karte“<br />
wurde<br />
am 1.10.1869 von<br />
Perg (Österreich)<br />
nach Kirchdorf versandt<br />
und wardie<br />
erste Postkarte.<br />
Sie markierte den<br />
Beginn eines<br />
rascheren Informationsaustauschs,<br />
wurde jedoch bei<br />
ihrer Einführung<br />
noch als „unanständige<br />
Form der Mitteilung“<br />
kritisiert–<br />
auch wurde zu<br />
Beginn um die<br />
Bewahrung guter<br />
Sitten und um<br />
sinkende Einnahmen<br />
gefürchtet.<br />
Vor gut einem Jahr suchte ich in San<br />
Francisco einen Briefkasten. Die<br />
Postkarten, die ich verschicken<br />
wollte, hatte ich geschrieben und<br />
frankiert dabei. Ich bat meine Bekannte, die<br />
mich begleitete, auch Ausschau zu halten,<br />
sie schien nicht richtig zu verstehen, warum.<br />
Als wir einen Briefkasten fanden, fragte sie<br />
mich: „Und was wirfst du da jetzt rein?“ Da<br />
begriff ich: Sie wusste nicht, was eine Postkarte<br />
ist.<br />
Es war ein seltsamer Moment: Icherklärte<br />
einer Reisenden ein Ritual, von dem ich angenommen<br />
hatte, dass es integraler Bestandteil<br />
des Tourismus sei: Macht man Urlaub,<br />
verschickt man Postkarten. Die junge<br />
Frau kam aus Israel, sie war Anfang zwanzig,<br />
viel eher Millenial als ich. Warsie als Digital<br />
Native der analogen Welt entwachsen? Oder<br />
hatte vielmehr ich den Bezug zum medialen<br />
Fortschritt verloren, indem ich an längst<br />
überholten Traditionen festhielt?<br />
Tatsächlich grüßt die überwiegende<br />
Mehrheit inzwischen via Social Media. Ein<br />
Kollege etwa bezwang kürzlich den Goldsteig<br />
in der Sächsischen Schweiz. Oben angekommen,<br />
bot sich ein mystischer Ausblick:<br />
Ausdem Talstieg der Dunst dem Himmel<br />
entgegen. Das Foto davon zeigt eine<br />
Landschaft wie Tolkiens Mittelerde, also<br />
klickte ich auf das Herz unter dem Foto und<br />
vergab ein Like.Amgleichen Tagpostete eine<br />
Freundin von einem Südtiroler Marktplatz<br />
die enttäuschende Latte-Art auf ihrem Cappuccino.<br />
Indie Schaumkrone hatte der Barista<br />
ein grobschlächtiges Smiley gezaubert.<br />
Kein Like. Eine dritte Bekannte entdeckte<br />
zeitgleich die New Yorker Stadtbibliothek.<br />
Ichwar noch niemals in NewYork, also: Like.<br />
Eindrücklicher als Ansichtskarten sind<br />
die Posts allemal, schließlich geben sie Einblick<br />
in subjektive Erlebniswelten, statt nur<br />
lokaltypische Attraktionen abzubilden. Häufig<br />
entbehren die ausgewählten Motive sogar<br />
jeglichen Spektakels und spiegeln damit<br />
eher die Wirklichkeit als die massentouristisch<br />
geprägte Ästhetik von Postkarten.<br />
Deren Design bedient den „tourist<br />
gaze“, den touristischen Blick. Dieses<br />
Schauen entspricht der Suche nach dem<br />
Anderen, nach der größtmöglichen Abweichung<br />
vom eigenen Alltag. So übt sich der<br />
Tourist, dessen Blick bereits durch mediale<br />
Reproduktionen geschult ist, im Wiedererkennen<br />
bekannter Motive. „Oh, that’s so<br />
postcard!“, rief ein Reisender,als er zum ersten<br />
Maldie Niagarafälle sah.<br />
Kann Instagram helfen, diesen voreingenommenen<br />
Blick abzulegen, etwa indem<br />
man statt der berühmten Wasserfälle die Be-<br />
Oh, that’sso<br />
postcard!<br />
Waseinem Touristen einst beim Anblick<br />
der Niagarafälle entfuhr,sagtheute niemand mehr.Urlaubsziele<br />
setzt man jetzt selbst in Szene, auf Instagram. Trotzdem gibt es gute<br />
Gründe, die Postkarte zu vermissen<br />
VonAnna Gyapjas<br />
Ihre Blütezeit erlebte die Ansichtskarte zwischen 1895 und 1914. Danach sanken die<br />
Produktionszahlen erheblich –und die Motive wurden weniger vielfältig.<br />
sucherkarawanen postet? Die Frage ist eine<br />
rhetorische. Online zieht jene Natur, die unberührt<br />
wirkt. Scharenweise pilgern Menschen<br />
an Orte, auf die sie im Netz aufmerksam<br />
geworden sind, längst haben Reiseanbieter<br />
den Trend erkannt. „Instagram-Reisebüros“<br />
sorgen dafür,dass die Posting-Freudigen<br />
an ihr Ziel –möglichst viele Likes –gelangen.<br />
Dass sie dabei Pflanzen zertrampeln, die Umgebung<br />
vermüllen, sogar neue Wildtiere in<br />
die Gegend locken, stört die wenigsten. Aber<br />
sind solche Postings aus der Ferneüberhaupt<br />
die rechtmäßigen Erben der Ansichtskarte?<br />
Eine repräsentative Online-Umfrage, die<br />
YouGov im Juni durchführte, scheint das Gegenteil<br />
herausgefunden zu haben. Als bevorzugtes<br />
Medium für Urlaubsgrüße nannten 49<br />
Prozent der Befragten Postkarten beziehungsweise<br />
Postkarten-Apps, dicht gefolgt<br />
von Nachrichten-Apps wie WhatsApp oder<br />
Messenger,die 42 Prozent der Befragten nutzen.<br />
Erst an dritter Stelle stehen Plattformen<br />
wie Instagram, mit mickrigen 5Prozent.Während<br />
86 Prozent der Befragten angeben, gerne<br />
Postkarten zu erhalten, können oder wollen<br />
sich 43 Prozent nicht aufraffen, tatsächlich<br />
welche zu verschicken.<br />
Brigitte Thiemann kennt das.Die Seniorin<br />
aus Kempen hat ein erfolgreiches Onlineportal<br />
für Grußkarten,„Witchtree“ heißt es.Thiemann<br />
selbst verschickt analoge Postkarten<br />
nur noch, wenn Beileid bekundet werden<br />
muss oder zur Konfirmation. Alle anderen<br />
Grüße erledigt sie mit E-Cards. Und sie weiß,<br />
dass viele es ihr gleichtun. „Als das Smartphone<br />
kam und die Apps, wurde es schnell<br />
weniger mit den Grußkarten“, erzählt Thiemann<br />
am Telefon. Laut Statistik wurden im<br />
Jahr 2018 aber immerhin noch 354 063 ihrer<br />
Karten übermittelt, fast tausend am Tag, und<br />
das weltweit. In der Vorweihnachtszeit werden<br />
täglich ca. 2000, an Weihnachten bis zu<br />
15 000 Karten verschickt:„Daist beiWitchtree<br />
die Hölle los, manchmal sind so viele Leute<br />
drauf, dass alles abstürzt“, sagt sie.<br />
Unter den meistverschickten Grußkarten<br />
dieser Saison findet sich unter anderem das<br />
Porträt einer Katze. Die grauen Pfötchen auf<br />
ein rotes Kissen gebettet,auf demHaupt eine<br />
Nikolausmütze, blickt sie missmutig in die<br />
Ferne. Unter den Schnurrhaaren prangt der<br />
Grund für ihren Ennui: „Wann kommt denn<br />
nun endlich der Weihnachtsmann?“ Auf anderen<br />
Motiven sorgen die üblichen Sprüche<br />
für den emotionalen Touch: Besinnlichkeit,<br />
Gemütlichkeit und Frieden können die Absender<br />
wünschen –„dir“ oder „von ganzem<br />
Herzen“.<br />
Diepersönliche Ansprache,das extraausgewählte<br />
Motiv, die Freude, dass jemand an