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Berliner Zeitung 21.12.2019

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8 21./22. DEZEMBER 2019<br />

LYRIK<br />

VonBjörnHayer<br />

WEIHNACHTEN<br />

VonDagmar Leischow<br />

Vermächtnis eines Pessimisten<br />

„Wehre, /wer sich noch wehren kann“, ruft<br />

er uns in dem Band „Zu Gast im Labyrinth“<br />

zu, der zugleich sein poetisches Vermächtnis<br />

werden sollte: Günter Kunert, der große Kulturkritiker<br />

und Mahner unter den deutschsprachigen<br />

Lyrikern. Noch einmal zeigt sich<br />

der am 21. September diesen Jahres Verstorbene<br />

mit all seiner kritischen Schlagkraft. Er<br />

sinniert über das „lauten Lärmen“, den „alltägliche[n]<br />

Weltuntergang“, mithin die Ignoranz<br />

unserer spätmodernen Gesellschaft.<br />

Während sie in seinen Gedichten geschichtsverdrossen<br />

und dekadent vor sich<br />

hintaumelt, haben sich die meisten ihrer<br />

Mitglieder als Untote in einer „gemütlichen<br />

Gruft“ eingefunden. In der Tradition von<br />

Heine und Tucholsky,dieWehmut und satirische<br />

Bissigkeit in ihren Texten vereinen,<br />

changiert Kunerts Tonzwischen elegischem<br />

und anklagendem Impetus. Was sich offenbart,<br />

ist bei alledem die Erkenntnis eines in<br />

die Jahre gekommenen Pessimisten, die äußereWelt<br />

nicht mehr ändern zukönnen. Inmitten<br />

der lakonisch vorgebrachten Hoffnungslosigkeit<br />

bleibt lediglich die innere<br />

die letzte Zufluchtsstätte. Erschlossen<br />

wird sie durch<br />

die„Schrift“ als „Heimat /<br />

deren ich noch sicher<br />

bin“. Existenzieller, wahrerkönnte<br />

eine finale Liebeserklärung<br />

an die Poesie<br />

kaum ausfallen.<br />

Mit Angriff und Herz<br />

Günter Kunert:<br />

Zu Gast im Labyrinth<br />

Hanser, München 2019.<br />

112 S.,19Euro.<br />

Wie Günter Kunert durchläuft auch Adolf<br />

Endler die Entwicklung vom Anhänger zum<br />

Kritiker des DDR-Systems. 2009 verstorben,<br />

wird ihm nunmehr mit einer voluminösen<br />

Gesamtedition seiner Gedichte ein angemessenes<br />

Denkmal gesetzt. Zu Wort meldet<br />

sich darin stets einer,der den Mutnicht verliert,<br />

einer, der Souveränität in jeden Vers<br />

hineinlegt, einer, der inbrünstig sagt: „Wirklich<br />

/Ich will singen /Nicht nur dieses Wegmurmeln<br />

/der Worte“. Statt zur l’art pour<br />

l’art setzten seine oftmals schnoddrig, ironisch<br />

anmutenden Texte immer wieder zum<br />

politischen Frontalangriff an: mitunter gegen<br />

den „,Bild‘-Verleger“, der mit Ratten<br />

„Schlagzeilenschwärme“ züchtet und überhaupt<br />

all die Hetzer und Ideologen. Ihnen<br />

stellt er mitunter eine Scheherazade entgegen.<br />

Denn ihre„Gesänge der Freiheit“ bringen<br />

die arabischen Völker zum Aufbegehren<br />

gegen die Unterdrücker.Wer so viel Emotion<br />

in Empörung und Protest überführen kann,<br />

der weiß zugleich auch innig zu lieben:„Kleines<br />

Gedicht, winziges Licht, /ich schenk es<br />

dir […] /estudir gut: kühle dein Blut /<br />

oder wärme dich“, so die Tateines<br />

mitfühlenden Dichters.<br />

Ob in der Bissigkeit oder<br />

der Offenherzigkeit –<br />

Adolf Endlers Poesie ist<br />

unerschütterliche Formgebung:<br />

für Engagement<br />

und Empathie.<br />

Adolf Endler:<br />

Die Gedichte<br />

Wallstein, Göttingen 2019.<br />

846S., 39 Euro.<br />

Schrieb lange vor der aktuellen dritten Welle des Feminismus über Sex und Liebe, Männer und Frauen: Françoise Sagan im Jahr 1955.<br />

Der Hunger nach Leben<br />

Ein posthum erschienener Roman von Françoise Sagan ist eigenwillig wie immer<br />

Mit gerade mal 18 Jahren schrieb<br />

Françoise Sagan in „Bonjour<br />

Tristesse“ so ungeniert übers<br />

Erwachsenwerden und den<br />

ersten Sex, dass sich die Feuilletons von Begeisterung<br />

oder Abscheu überschlugen. Der<br />

Roman aus dem Jahr 1954 ist ein moderner<br />

Klassiker, ein kunstvolles Stück Literatur,<br />

dessen leichthändige Eleganz an die Sachlichkeit<br />

einer Irmgard Keun und anderer<br />

„Neuer Frauen“ denken lässt. Er verkaufte<br />

sich viele Millionen Mal.<br />

Aber hier geht es gar nicht um dieses Sensationsdebüt,<br />

sondern umeinen posthum,<br />

in diesem September mit großem Medien-<br />

Tamtam in Frankreich veröffentlichten Roman<br />

Sagans. Ihr Sohn Denis Westhoff entdeckte<br />

das unvollendete Manuskript im<br />

Nachlass, nun ist es unter dem Titel „Die<br />

dunklen Winkel des Herzens“ auch auf<br />

Deutsch zu lesen.<br />

Erzählt wird von Ludovic Cresson, der einen<br />

schweren Autounfall überlebt. Wegen<br />

der Fehldiagnose eines eitlen Arztes verbringt<br />

er danach zwei JahreinNervenheilanstalten,<br />

„außerstande, all die Psychopharmaka<br />

zu verweigern, die man ihm von morgens<br />

bis abends in die Venen pumpte …“<br />

Sein Vater holt ihn schließlich nach Hause,<br />

„wo er sich, nachdem er seine Arzneimittelfläschchen<br />

eins nach dem anderen in den<br />

Papierkorb geworfen hatte, als vollkommen<br />

normal herausstellte“. Ludovics schöne<br />

junge Ehefrau will ihren Mann dennoch<br />

nicht wiederhaben, auch der Rest der Familie<br />

behandelt ihn weiter wie ein kleines Kind,<br />

dabei ist er höchstens ein bisschen zerstreut<br />

und eingeschüchtert, dabei sehr liebenswürdig.<br />

Sie alle wirken wie Karikaturen bigotter<br />

Provinz-Bürgerlichkeit. Die Möchtegernwitwedreht<br />

sich im eleganten Trauerkostüm<br />

vorm Spiegel, Ludovics Vater entspannt sich<br />

entweder im Bordell oder vorm TV-Gerät,<br />

seine Stiefmutter verwirklicht sich mit dem<br />

Kauf hässlicher Möbel.<br />

VonSabine Rohlf<br />

Françoise Sagan: Die dunklen Winkel des Herzens<br />

Roman. Deutsch v. Waltraud Schwarze und Amelie Thoma.<br />

Ullstein, Berlin 2019. 192 S.,20Euro.<br />

Erzählt wirdinkurzenSätzen, genauen Beobachtungen<br />

und knappen Dialogen, doch<br />

bei weitem nicht so anmutig wie in Sagans<br />

grandiosen Erstling, und vielen ihrer danach<br />

verfassten Romane,Erzählungen, Stücke.Die<br />

Melange aus Psychiatriekritik und Familienroman<br />

trägt zu dick auf, kommentiertimmer<br />

wieder statt zu zeigen. Dabei ist Sagan eigentlich<br />

so gut im Weglassen, in der vielsagenden<br />

Leerstelle,der Lücke.Warum dieser posthum<br />

veröffentlichte Text stilistisch so zu wünschen<br />

übrig lässt, kann man nur vermuten.<br />

Denn ihr Sohn veränderte und ergänzte,das<br />

sagt er selbst im Nachwort, ohne deutlich zu<br />

machen, was genau und wie. Aus philologischer<br />

Sicht ist so etwas ein Graus. Und es ist<br />

für alle Leser schade, denn der Roman und<br />

sein Stoff sind eigentlich hochinteressant.<br />

Immerhin erlitt Sagan, die schnelle Autos<br />

liebte, selbst einen lebensgefährlichen Un-<br />

PICTURE POST<br />

fall: 22-jährig überschlug sie sich mit ihrem<br />

Aston Martin und lag sehr lange in Kliniken.<br />

Ihr Tagebuch „Toxique“ reflektiert die Sucht,<br />

in die sie durch das dort verabreichte Morphium<br />

geraten war, und ihren Hunger nach<br />

Leben, Geschwindigkeit, Rausch. Wie wir<br />

heute wissen, kam sie in ihrem Jetset-Leben<br />

nie wieder vonden Drogen los.Gesunde,disziplinierte<br />

Vernunft war ihreSache nicht.<br />

In „Die dunklen Winkel des Herzens“ dagegen<br />

wirkt alles so leicht. Der junge Mann<br />

löst sich mühelos von den Medikamenten<br />

und verliebt sich in seine Schwiegermutter,<br />

die ihn und ihreTochter besucht. Zu ihrer eigenen<br />

Überraschung schläft sie mit dem<br />

zehn Jahre jüngeren Schwiegersohn, ein<br />

Skandal bahnt sich an. Sieist eine eigenständige,<br />

elegante, liebenswürdige Modedesignerin.<br />

Es ist sicher nicht abwegig, bei dieser<br />

Figur auch an die Modejournalistin und Stylistin<br />

Peggy Roche zu denken, mit der Sagan<br />

zwanzig Jahrezusammenlebte,was sie nicht<br />

vonanderen Liaisons abhielt.<br />

Françoise Sagan lebte,wie es heute heißt,<br />

polyamourös, ihreTexte spiegeln das in vielerlei<br />

Hinsicht. Sieschrieb über Sexohne Ehe<br />

und Reue, sezierte offene Beziehungen, reflektierte<br />

die Spannung zwischen Verantwortung<br />

und Eigensinn. Wie viele Autorinnen<br />

ihrer Generation zögerte sie beim<br />

Thema Homosexualität, entwarf aber –wie<br />

mit dem sanften, so gar nicht starken Ludovic<br />

–Figuren, die konventionelle Geschlechterrollen<br />

unterlaufen. Und sie wusste stets,<br />

wen sie gar nicht schätzte: Ihre Darstellungen<br />

der bigotten Bourgeoisie sind scharfsichtig<br />

und böse.Das alles sind gute Gründe,<br />

sich auch für dieses neue, posthum erschienene,<br />

inseiner Unvollkommenheit ein bisschen<br />

rätselhafte Buch zu interessieren –und<br />

sei es nur, umeinmal mehr zu schauen, wie<br />

unkonventionell diese Schriftstellerin schon<br />

lange vor der aktuellen dritten Welle des Feminismus<br />

über Sex und Liebe, Männer und<br />

Frauen schrieb.<br />

Schwing und Schmelz<br />

Erst landete Robbie Williams mit seinem<br />

Weihnachtsalbum hinter Lindemann lediglich<br />

auf Platz zwei der deutschen Charts,dann<br />

eroberte er dank einiger Fernsehauftritte und<br />

Interviews (auch in dieser <strong>Zeitung</strong>) schließlich<br />

doch die Spitzenposition. Zu Recht? Was<br />

unstrittig ist: Etliche Stücke verbindet Robbies<br />

Passion für Swing. Die darf bei dem Lied<br />

„Santa Baby“ Helene Fischer mit ihm teilen.<br />

Den britischen Pop-Titanen mit der deutschen<br />

Schlagersängerin zusammenzubringen,<br />

ist marketingstrategisch ein kluger<br />

Schachzug. Andere Duette sind spannender.<br />

Wenn Robbie mit dem Boxer Tyson Fury das<br />

recht poppige „Bad Sharon“ singt, macht sich<br />

dessen angeraute Stimme erstaunlich gut.<br />

„Merry Kissmas“ präsentiert sich souligfunky.Zusolchen<br />

Eigenkompositionen gesellen<br />

sich Klassiker wie„Let It Snow!Let It Snow!<br />

Let It Snow!“ oder die Slade-Nummer „Merry<br />

Xmas Everybody“, bei der Jamie Cullum zum<br />

Einsatz kommt. Und ohne das beschwingte<br />

„Winter Wonderland“ lässt auch Robbie Williams<br />

die Festgemeinde nicht ins Bett. Dasfolkige<br />

„Fairytales“, für das er Rod Stewart ins<br />

Studio gebeten hat, lädt zum Mitsummen ein.<br />

Bei„Home“ übernimmt Robbies ältesteTochter<br />

Theodora, genannt Teddy, einen kleinen<br />

Part.„Coco's Christmas Lullaby“ widmet der<br />

Sänger mit viel Balladenschmelz<br />

seiner<br />

Jüngsten. All das<br />

ist sehr charmant<br />

und schön zu hören.<br />

Alles auf Zucker<br />

RobbieWilliams:<br />

The Christmas Present<br />

SonyMusic<br />

Wirsind ja Kummer gewohnt, wenn wir in der<br />

Adventszeit auf der Suche nach Geschenken<br />

durch die Stadt eilen. In der Fußgängerzone<br />

foltert uns ein Blockflötenspieler mit „Stille<br />

Nacht“, im Einkaufszentrum können wir<br />

„Last Christmas“ nicht entkommen. Aber die<br />

Hoffnung stirbt zuletzt. Vielleicht erwartet<br />

uns zwischen all dem Weihnachtsgedudel<br />

eine positive Überraschung. Bereits zum<br />

zweiten Mal wagt sich der Wahl-<strong>Berliner</strong><br />

Christoph Israel aus der Deckung, der –sagen<br />

wir es gleich –schon bessere Platten abgeliefert<br />

hat. Acht Instrumentalfassungen plus<br />

acht Gesangsversionen nahm der Pianist,<br />

Komponist, Arrangeur und Produzent ins Repertoire–eingespielt<br />

mit dem Swonderful Orchestra<br />

unter der Leitung der Dirigentin Catherine<br />

Larsen-Maguire. Aus dem Vollen geschöpft<br />

hat Israel dabei leider nicht. Stücke<br />

wie „O du fröhliche“ oder „Still, still, still“ sind<br />

gleich zweimal auf der Platte, mit und ohne<br />

Gesang. Peinlich wird’s, wenn Götz Alsmann<br />

sein albernes„Lass es schnei'n“ anstimmt (im<br />

Original:„Let It Snow“). Michael Schulte kann<br />

bei „It's Beginning To Look aLot Like Christmas“<br />

nicht mit Michael Bublés hinreißender<br />

Interpretation konkurrieren. Und bei „All I<br />

Want ForChristmas Is You“ zuckern die Geigen<br />

und die Sängerin Kandance Springs dermaßen<br />

rum, dass<br />

das zum Wegdösen<br />

animiert. Da hat<br />

Mariah Carey mehr<br />

Rumms.<br />

ChristophIsrael:<br />

EinWintermärchen 2<br />

Deutsche Grammophon<br />

OL

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