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2 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 297 · 2 1./22. Dezember 2019<br />
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·<br />
Report<br />
Die neue Serie der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>: Merkels Vermessung<br />
2005 wurde Angela Merkel zum ersten Mal zur Regierungschefin gewählt.<br />
Sie hat angekündigt, nach Ende der Legislaturperiode 2021 das<br />
Amt der Bundeskanzlerin nicht mehr anstreben zu wollen.<br />
Wirbefinden uns also in den letzten Jahren der Kanzlerschaft Merkels.<br />
Zeit für eine Bilanz. Die <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> will in einer großen Serie, die<br />
durch das kommende Jahr führt, die Kanzlerschaft Merkels vermessen<br />
und datenjournalistisch aufbereiten. Wirstarten mit der Analyse<br />
vonMerkels Neujahrsansprachen –wie hat sie über die Jahre versucht,<br />
ihre Politik zu vermitteln? Welche Themen waren ihr wichtig?<br />
Das Institut für Spielanalyse aus Potsdam hat im Auftrag der <strong>Berliner</strong><br />
<strong>Zeitung</strong> die Daten ermittelt, die Agentur Visualdriven hat sie gemeinsam<br />
mit Annette Tiedge, der Art-Direktorin der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>,optisch<br />
aufbereitet. Eric Beltermann, Datenjournalist der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>,und<br />
Holger Schmale, politischer Autor der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>,haben das Material<br />
analysiert, eingeordnet und bewertet. Die Politik-Redakteurin Tanja<br />
Brandes hat die Ereignisse der Jahre zusammengestellt. Dieses Team<br />
wird auch in Zukunft gemeinsam mit weiteren Kolleginnen und Kollegen<br />
die großeDaten-Serie präsentieren.<br />
Die nächste FolgeimJanuarbeschäftigt sich mit Merkels Dienstreisen in<br />
den vergangenen Jahren: Wo undwannwar siewarum?Und was sagt uns<br />
das über ihre Politik?<br />
2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011<br />
2012<br />
2013<br />
2014<br />
2015<br />
2016<br />
2017<br />
2018<br />
Der Hintergrund ist immer gleich, doch die Kanzlerin wählte für jede ihrer Neujahrsansprachen am Silvesterabend einen anderen Blazer.Allerdings sind fast alle festlich glänzend. Wasnoch auffällt: Bis 2010 trug MerkelBrille, seit 2011 verzichtet sie darauf. DPA (14)<br />
Verstehen wir uns?<br />
In ihrenNeujahrsansprachen wendet sich die Kanzlerin an die Bürger.Angela Merkels Reden zeigen, was das Land bewegt –und wiedie Politikerin sich veränderte<br />
VonHolger Schmale und Eric Beltermann<br />
Fernsehansprachen gehören in der<br />
Bundesrepublik gewöhnlich nicht<br />
zum Repertoire der Regierungschefs.<br />
Nur in seltenen Situationen<br />
haben sich Bundeskanzler auf dieseWeise an<br />
die Bürger gewandt. Zuletzt tat dies Gerhard<br />
Schröder 1999 zu Beginn des Nato-Angriffs<br />
auf Serbien, als zum ersten Mal seit dem<br />
Zweiten Weltkrieg deutsche Soldaten an einem<br />
Kampfeinsatz beteiligt waren. Angela<br />
Merkel hat in ihren bald 14 Regierungsjahren<br />
noch nie aus einem politischen Anlass direkt<br />
zu den Bürgerngesprochen, obwohl sie häufig<br />
dazu aufgefordert worden ist, zum Beispiel<br />
auf dem Höhepunkt der Finanz- oder<br />
der Flüchtlingskrise.<br />
Nur amletzten Tagdes Jahres ist das anders.<br />
Die Neujahrsansprache der Kanzlerin<br />
gehört zum Silvesterfernsehprogramm vieler<br />
Bürger wie „Dinner for One“ mit Miss Sophie.<br />
Angela Merkel erzielt dabei erstaunliche Einschaltquoten.<br />
Jede ihrer Ansprachen haben<br />
seit 2005 allein bei ARD und ZDF immer deutlich<br />
mehr als fünf Millionen Bürger verfolgt.<br />
Das ist fast Tatort-Niveau. Angela Merkel war<br />
damit immer die zweite Quotenqueen des<br />
Abends,hinter Miss Sophie,versteht sich.<br />
Wie die Analyse zeigt, die wir auf der gegenüberliegenden<br />
Seite in „Wortwolken“<br />
dargestellt haben, bietet Merkel kein reines<br />
Wohlfühlprogramm. Sie spricht in den fünf<br />
bis sechs Minuten ihrer Rede die Probleme<br />
des vergangenen Jahres offen an, bezieht<br />
auch Stellung. Dabei versucht sie aber stets,<br />
einen optimistischen Ausblick zu geben. Ihr<br />
„Wir schaffen das“ aus dem Flüchtlingsjahr<br />
2015 ist ein Gedanke, der alle Reden durchzieht,<br />
er ist Ausdruck einer Grundhaltung.<br />
Schon ihre erste Neujahrsansprache 2005<br />
folgt dieser Regel. „Was kann man alles in einem<br />
Jahr erreichen? Es ist eine ganzeMenge!“,<br />
beginnt sie.„Wiewärees, wenn wir uns heute<br />
Abend das Ziel setzen, im kommenden Jahr<br />
überall noch ein wenig mehr als bisher zu vollbringen?“<br />
Dassei auch das Konzept der neuen<br />
Regierung. „Viele kleine Schritte gehen, die<br />
aber in die richtige Richtung.“ Dasgelte auch<br />
für das „Problem Nummer eins, die erschreckend<br />
hohe Arbeitslosigkeit“. Wichtig ist der<br />
Kanzlerin aber auch die Fußballweltmeisterschaft,<br />
die 2006 in Deutschland unter dem<br />
Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ stattfindet.<br />
„Lassen Sie uns alle gemeinsam<br />
Freunde unserer Gäste werden“, fordert sie<br />
die Bürger auf. In der „Wortwolke“ ist klar zu<br />
erkennen: Arbeit und Deutschland spielen<br />
Der kleine Unterschied<br />
Mal wünscht die Kanzlerin den Deutschen ein „gesegnetes<br />
Jahr“, mal verabschiedet sie sich mit<br />
„Gottes Segen“. Warumsie das mal so und mal so<br />
handhabt, bleibt ein Geheimnis der praktizierenden<br />
Christin.<br />
... für 2011 Gesundheit, Kraft,<br />
Zufriedenheit und Gottes Segen.<br />
... ein gesundes, erfülltes und frohes<br />
neues Jahr 2013 und Gottes Segen.<br />
... Zufriedenheit und Gottes<br />
Segen für das neue Jahr 2014.<br />
... gemeinsam Kraft, Gesundheit und<br />
Gottes Segen für das neue Jahr 2015.<br />
... Gesundheit, Kraft, Zuversicht und<br />
Gottes Segen für das neue Jahr 2016.<br />
... von Herzen ein frohes neues Jahr,<br />
Glück, Gesundheit und Gottes Segen.<br />
... Gesundheit, Kraft, Zuversicht und<br />
Gottes Segen für das neue Jahr 2018.<br />
INSTITUT FÜR SPIELANALYSE,VISUALDRIVEN; QUELLE: WWW.BUNDESKANZLERIN.DE<br />
eine wichtige Rolle in ihrer Rede.Ein Jahr später<br />
meldet sie sozusagen Vollzug: Die Zahl<br />
der Arbeitslosen ist um fast eine halbe Million<br />
Menschen zurückgegangen, das Wirtschaftswachstum<br />
doppelt so hoch wie 2005.<br />
Und esgab ein Sommermärchen: Die deutsche<br />
Mannschaft hat den dritten Platz bei<br />
der Fußball-WM belegt, „wir Deutschen haben<br />
das Mitreißende von Schwarz-Rot-Gold<br />
gespürt“. Auch 2007 geht es aufwärts, am<br />
Jahresende kann die Kanzlerin ihreletzte fast<br />
sorgenfreie Neujahrsansprache halten.<br />
MIT GOTTES-FORMEL<br />
?<br />
2005<br />
2006<br />
2007<br />
2008<br />
2009<br />
2010<br />
2011<br />
2012<br />
2013<br />
2014<br />
2015<br />
2016<br />
2017<br />
2018<br />
2019<br />
OHNE GOTTES-FORMEL<br />
?<br />
2008 erreicht die Finanzkrise Deutschland,<br />
und von jetzt an zieht sich der Krisenmodus<br />
durch alle weiteren Neujahrsansprachen.<br />
Die Lage des Landes steht im Mittelpunkt,<br />
das zeigt auch die Analyse ihrer<br />
Worte. Der Finanzkrise folgt die Eurokrise.<br />
Für 2012 sieht Merkel die schwerste Bewährungsprobe<br />
Europas heraufziehen, doch sie<br />
bleibt optimistisch: „Am Ende dieses Weges<br />
wird Europa stärker aus der Krise hervorgehen,<br />
als es hineingegangen ist.“ 2011 ist aber<br />
auch das Jahr, in dem die Mordserie des<br />
... ein gutes, ein erfülltes und<br />
gesegnetes neues Jahr 2006.<br />
... ein gutes, ein erfülltes und ein<br />
gesegnetes neues Jahr 2007.<br />
... ein erfülltes und gesegnetes<br />
neues Jahr 2008.<br />
... ein erfülltes, ein glückliches<br />
und ein gesegnetes Jahr 2009.<br />
... ein erfülltes, ein glückliches<br />
und ein gesegnetes Jahr 2010.<br />
... ein frohes, gesundes und<br />
gesegnetes neues Jahr 2012.<br />
... ein gesundes, frohes und<br />
gesegnetes neues Jahr 2019.<br />
rechtsradikalen NSU entdeckt wird. Die<br />
Kanzlerin ruft zur Verteidigung der offenen<br />
und freiheitlichen Gesellschaft auf, ein<br />
Thema, dem sie fortan treu bleiben wird.<br />
2014 werden die Flüchtlinge zum Thema.<br />
„Es ist selbstverständlich, dass wir ihnen helfen<br />
und Menschen aufnehmen, die bei uns<br />
Eric Beltermann<br />
findet in einfachen Zahlen wichtige<br />
Geschichten.<br />
Zuflucht suchen.“ Der Umgang mit Menschen<br />
und unsereWerte stehen im Fokus ihrer<br />
Worte. Merkel wendet sich entschieden gegen<br />
die fremdenfeindlichen Pegida-Aufmärsche:<br />
„Heute rufen manche montags wieder: Wir<br />
sind dasVolk. Aber tatsächlich meinen sie: Ihr<br />
gehört nicht dazu –wegen eurer Hautfarbe<br />
oder eurer Religion. Deshalb sage ich allen,<br />
die auf solche Demonstrationen gehen: Folgen<br />
Siedenen nicht, die dazu aufrufen!“<br />
Ein Jahr später widmet sich die Kanzlerin<br />
fast ausschließlich der einen Million Flüchtlinge,die<br />
2015 nach Deutschland gekommen<br />
sind. Siedankt denvielen freiwilligen Helfern,<br />
aber sie nimmt das allgegenwärtige Wort von<br />
der Flüchtlingskrise nicht in den Mund. Im<br />
Gegenteil: Angesichts der heftigen Kritik an<br />
ihrem Umgang mit dem Problem wiederholt<br />
sie fast provozierend ihren umstrittensten<br />
Satz des Jahres: „Wir schaffen das.“ Ihr<br />
„Danke“ aber ist, wie in der Wortwolke deutlich<br />
zu sehen, der zentrale Begriff der Rede.<br />
In ihrer bisher letzten Ansprache Silvester<br />
2018 klingt sie nicht mehr so optimistisch. Sie<br />
setzt, das zeigt auch die „Wortwolke“, keine<br />
wirklichen thematischen Schwerpunkte. Sie<br />
spricht von einem schwierigen politischen<br />
Jahr, indem viele mit der Bundesregierung<br />
gehadert hätten. „Erst haben wir lange gebraucht,<br />
um überhaupt eine Regierung zu bilden,<br />
und als wir sie hatten, da gab es Streit und<br />
viel Beschäftigung mit uns selbst.“ Doch:„Wir<br />
ringen um die besten Lösungen in der Sache.<br />
Immer häufiger aber auch um den Stil unseres<br />
Miteinanders, umunsere Werte: Offenheit,<br />
Toleranz und Respekt. Diese Werte haben<br />
unser Land stark gemacht. Für sie müssen<br />
wir uns einsetzen, auch wenn es unbequem<br />
und anstrengend ist.“ Sie kehrt an<br />
diesem Abend zu einer Grußformel zurück,<br />
die sie anfangs immer und dann viele Jahre<br />
nicht benutzt hat: Sie wünscht ein „gesegnetes<br />
Jahr 2019“ –und nicht „Gottes Segen“.<br />
Warum sie das mal so und mal so handhabt,<br />
bleibt ein Geheimnis der praktizierenden<br />
Christin.<br />
Auch wenn die Neujahrsansprache der<br />
Regierungschefin etwas Patriarchalisches,<br />
aus der Zeit Gefallenes an sich hat –Angela<br />
Merkel zeigt in diesen kurzenReden, dass sie<br />
durchaus verstanden hat, was die Menschen<br />
umtreibt. Wer ihre Reden nachliest, erlebt<br />
ein Stück Zeitgeschichte.<br />
Holger Schmale<br />
staunt über die hohen Einschaltquoten<br />
der Neujahrsansprachen.