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Berliner Zeitung 21.12.2019

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2 21./22. DEZEMBER 2019<br />

21./22. DEZEMBER 2019<br />

Jennifer lag auf dem Fußboden und<br />

lauschte. Sie hörte nichts. Sie liebte<br />

Ruhe, aber die Stille dort unten klang<br />

wie ein Vorwurf.<br />

Vorzehn Tagen, am dritten Advent, war<br />

die Tür derWohnung unter ihnen zugefallen.<br />

Es hatte endgültig geklungen, abschließend,<br />

ohne dass sie hätte sagen können, warum.<br />

Der Mann in der Wohnung war nie laut gewesen.<br />

Manchmal schien er etwas umzuschichten.<br />

Neu zu sortieren. Manchmal<br />

klang es, als würde er sich seine Stiefel ausziehen<br />

und sie fallen lassen, vielleicht voneinem<br />

Hochbett. Sie stellte sich vor, dass er in<br />

seinen Sachen schlief. Er schien nie Besuch<br />

zu haben, dennoch bildete sie sich ein,<br />

manchmal Sexgeräusche zu hören, ein unterdrücktes,<br />

lustvolles Stöhnen. Wenn er telefonierte,<br />

verließ er das Zimmer, sie hörte<br />

immer nur den Anfang des Gesprächs, Begrüßungsfloskeln.<br />

Manchmal hörte sie einen<br />

Song, den er, sostellte sie sich das vor, entdeckte<br />

oder wiederentdeckte. Erhörte ihn<br />

dann ein paar Mal, halblaut. Meist waren es<br />

Frauenstimmen. Michelle Shocked, Lana<br />

Del Rey, Suzanne Vega, Cat Power, First Aid<br />

Kit, Stevie Nicks.Manchmal hielt sie die Shazam-App<br />

an die Dielen, um die Sängerin zu<br />

erkennen. Zuletzt hörte er viel Cigarettes After<br />

Sex, eine Band, deren Sänger zumindest<br />

klang wie eine Frau. Es gab eine neue Platte.<br />

Der erste Song hieß: „Don’t Let Me Go“. Natürlich<br />

hielt sie das jetzt für eine Botschaft.<br />

Am dritten Advent war die Musik verstummt.<br />

Der Mann hieß Kowalski, an seinen Vornamen<br />

erinnerte sie sich nicht.<br />

„Alles okay,Jen?“, fragte Ludwig, als er aus<br />

der Küche ins Wohnzimmer kam. Es klang<br />

ein bisschen besorgt. Sie mochte diese besorgte<br />

Stimme nicht. Sie mochte es auch<br />

nicht, wenn Ludwig ihren Namen aussprach,<br />

als käme sie aus Tennessee und nicht aus<br />

FrankfurtamMain. Dschönn.<br />

Ludwig hatte ihr in der Woche zwischen<br />

dritten und viertem Advent erzählt, dass er<br />

Kowalski gerade kündigt habe.Sie war überrascht,<br />

wenn auch nur ein wenig. Sie hatten<br />

ein paarmal darüber geredet, eine Spinnerei<br />

eher: Wir schneiden ein Loch in den Boden<br />

und nehmen uns Kowalskis Wohnung dazu.<br />

Sie würden auf zwei Etagen leben, eine<br />

Treppe,die man im Morgenmantel herunter<br />

stolzieren könnte wie Johannes Heesters.<br />

Dann geh ich ins Maxim, hatte Ludwig gesungen.<br />

Sie hatte gelacht. Das Haus gehörte<br />

ihnen. DieKündigung steckte jetzt in Kowalskis<br />

Briefkasten. Sie dachte jedesmal daran,<br />

wenn sie dort vorbeilief. Kowalski war der<br />

Einzige im Haus,der keinen Aufkleber hatte,<br />

der darum bat, keine Werbung einzuwerfen.<br />

Siefand das sympathisch. Es passte zur Musik,<br />

die er hörte. Kowalski war auch der einzige<br />

im Haus, der noch rauchte. Sie schnüffelte<br />

am Parkett, aber sie roch nichts außer<br />

dem leicht nussigen, kreidigen Geruch der<br />

spermafarbenen Seife, mit der Irina, ihre<br />

Putzfrau, die Lärchendielen wusch. Der<br />

letzte Raucher hatte das Haus verlassen.<br />

„Ich hörenix“, sagte sie.<br />

„Was?“, fragte Ludwig.<br />

„Kowalski“, sagte sie.<br />

Siestand auf. Er sah sie fragend an.<br />

„Meinst du, er hat die Kündigung<br />

schon gelesen?“, fragte sie.<br />

„Wenn, dann arbeitet er jetzt<br />

an der Entgegnung“, sagte<br />

Ludwig. „Ich freu mich schon<br />

drauf.“<br />

Er hatte eine Mappe<br />

mit den Beschwerdebriefen<br />

aufgehoben.<br />

In einem hatte<br />

Kowalski<br />

auf zwei Seiten<br />

die Form<br />

des Loches beschrieben, das in<br />

den zwei Jahren in seiner Decke<br />

entstand, in denen sie das Dach ausbauten.<br />

Es hatte zunächst die Form der Insel Usedom<br />

gehabt, schrieb Kowalski, später die vonMadagaskar.Erhatte<br />

die Jahreszeiten in diesem<br />

Loch vorbeiziehen sehen, behauptete Kowalski,<br />

er hatte beobachtet, wie der Rauch<br />

seiner Zigaretten in dem Loch verschwand,<br />

das dicker wurde,zuSardinien erst, dann zu<br />

Sizilien. Kowalski war Heimerzieher gewesen,<br />

er hatte eine Kindertheatergruppe geleitetet,<br />

einen Jugendklub, erhatte die Liebe<br />

seines Lebens verloren, die in einer Band gesungen<br />

hatte, für die er Texte geschrieben<br />

hatte. Sie war mit dem Sänger durchgebrannt.<br />

Sie hieß Lisa. Die Band hieß Luftschloss,<br />

der Sänger Lars. Lisa wollte nie Kinder,<br />

dann bekam sie gleich zwei nacheinander<br />

mit dem neuen Mann. Es hatte Kowalski<br />

aus der Bahn geworfen, obwohl auch er eigentlich<br />

nie Kinder gewollt hatte.<br />

All das stand in den Beschwerdebriefen,<br />

die er an die Hausverwaltung schrieb. Er<br />

hatte drei Marmeladengläser mit dem Material<br />

gefüllt, das aus seiner Decke rieselte.<br />

Seine Plattensammlung war bei einem Wasserschaden<br />

beschädigt worden. Darunter<br />

dasWeiße Album der Beatles,das er Ende der<br />

80er-Jahre für 250 Ostmark auf einem<br />

Schwarzmarkt in Kolobrzeg gekauft hatte.<br />

Daswar eine Stadt an der polnischen Ostsee,<br />

wo Kowalski Mitte der 80er-Jahreein Ferienlager<br />

besucht hatte. ImHerbst ’89 war er<br />

nach einer Demonstration durch das<br />

Stadtzentrum von Neustrelitz eine<br />

Nacht inhaftiertworden. Er hatte dem<br />

Beschwerdebrief drei Blätter aus einer<br />

Akte beigelegt, die die Staatssicherheit<br />

über ihn angelegt hatte,<br />

als er Student an einem Lehrerbildungsinstitut<br />

gewesen war.Es<br />

blieb Jennifer unklar,worum es<br />

auf diesen Blättern ging, und<br />

wer eigentlich woran schuldig<br />

war.<br />

Kowalski war seit fünfzehn<br />

Jahren in psychiatrischer Behandlung.<br />

Er hatte der Hausverwaltung<br />

die Medikamente<br />

aufgelistet, die er nahm. Upper<br />

und Downer. Sie kannten auch<br />

die Nebenwirkungen. Die Hausverwaltung,<br />

die Ludwig beschäftigte,<br />

saß in Zeesen bei Berlin. Sie<br />

wussten dort, dass Kowalskis Vater,<br />

der in einem Dorf in Mecklenburg<br />

lebte, mit schweren Herzproblemen zu<br />

kämpfen hatte,und seine Schwester nach<br />

einem Motorradunfall im Rollstuhl saß, im<br />

gleichen Dorf, in dem sein Vater wohnte. Sie<br />

kannten in Zeesen sogar den Blutalkoholgehalt<br />

des Mannes, der den Unfall verschuldet<br />

hatte.2,8 Promille.<br />

Ausall diesen Dingen hatte Kowalski sich<br />

eine Mietminderung errechnet, die ihn am<br />

Ende die Wohnung kosten würde. Erhatte<br />

einfach nur noch die Hälfte seiner Miete bezahlt,<br />

er hatte nicht auf Mahnungen reagiert.<br />

Er hatte sich im Recht gefühlt. Ein Opfer der<br />

Zeiten und Umstände. Der grundsätzliche<br />

Beschwerdebrief trug den Namen eines<br />

Songs vom Weißen Album als Überschrift:<br />

Ob-La-Di, Ob-La-Da.<br />

Wovon Kowalski lebte, ging aus dem<br />

Schreiben nicht hervor. Er musste Mitte<br />

fünfzig sein. Zehn Jahreälter als sie.Soalt wie<br />

Ludwig. Mantrafihn selten außerhalb seiner<br />

Wohnung, und wenn, trug er eine Baseballkappe<br />

und eine Brille mit dickem schwarzen<br />

Rahmen.<br />

„Wann muss er denn raus?“, fragte Jennifer.<br />

„Erist schon über zehn JahreMieter.Erhat<br />

eine Frist vonneun Monaten“, sagte Ludwig.<br />

„ImAugust. Ichhabe schon Zeichnungen machen<br />

lassen. Wir könnten dort die<br />

Bibliothek einrichten.“<br />

„Die Bibliothek?“, fragte sie.<br />

„Oder ein Gästezimmer“,<br />

sagte Ludwig.<br />

Ludwig hatte weder<br />

Gäste, die über<br />

Nacht blieben,<br />

noch Bücher,<br />

dachte sie.<br />

Er machte das für sie. Eropferte<br />

ihr Kowalski. Er befriedigte<br />

ihren ganz persönlichen<br />

Eigenbedarf. Mit einer Bibliothek.<br />

Sie hatte Literaturwissenschaften<br />

studiert. Er schenkte ihr die<br />

Kündigung zu Weihnachten.<br />

„Soll ich Pullover oder lieber ein Hemd<br />

anziehen?“, fragte er.<br />

„Hemd“, sagte sie.<br />

Sechs Stunden später, nachdem alle aus<br />

der Kirche wiedergekommen waren, zeichnete<br />

Ludwig mit einem Kreidestück, das er<br />

sich offenbar für diese Gelegenheit besorgt<br />

hatte,für ihrespäten Weihnachtsgäste einen<br />

Kreis aufs Parkett, dorthin, wo er die Treppe<br />

einbauen würde.<br />

Es waren befreundete Paare, nur für einen<br />

Weihnachtsdrink. Kai und Vera. Boris<br />

und Jana. Tim und Paula. Keine Familie.<br />

Vera und Kai sowie Boris und Jana hatten<br />

Söhne, die eine gemeinsame Klasse einer<br />

internationalen Schule besuchten und<br />

auf Klassenfahrt in der Schweiz waren.<br />

Tim und Paula wohnten im zweiten Stock,<br />

wo ihre beiden Töchter einen Weihnachtsfilm<br />

sahen. Sie und Ludwig hatten<br />

keine Kinder. Erst noch nicht, jetzt nicht<br />

mehr. Ludwigs Vater lebte in der Schweiz,<br />

ihre Mutter in Frankfurt.<br />

Es war kurzvor zehn.<br />

Ludwig war für das Essen zuständig, Jennifer<br />

für die Musik. Carpaccio aus Winterkabeljau,<br />

Salat aus grünem Spargel, Orangen<br />

und frittiertem Grünkohl. Ein paar Weihnachtslieder,<br />

die dann in Christmaspop<br />

übergingen und schließlich in den Frauenchor,<br />

der von Kowalski inspiriert war. Mazzy<br />

Star, Dixie Chicks, Shelby Lynne, Adele, Joan<br />

Baez,Lucinda Williams.<br />

„Und was passiert mit Kowalski?“, fragte<br />

Paula aus dem zweiten Stock.<br />

„Dem mussten wir kündigen“, sagte Ludwig.<br />

Wir, dachte Jennifer,sagte aber nichts.<br />

„Duweißt ja“, sagte Ludwig.<br />

Paula nickte,als wisse sie es wirklich.Vielleicht<br />

fand sie Kowalski seltsam. Vielleicht<br />

fanden ihre Töchter Kowalski seltsam.<br />

Spooky. Weird. Creepy. Ein Gespenst. Ein<br />

Untoter.<br />

Unterwelt<br />

Eine Weihnachtsgeschichte<br />

von Alexander Osang<br />

Sie waren die Weltbürger.Das neue Berlin. Sie waren auf der richtigen Seite. Sie nahmen Leuten die Wohnung weg, aber mit besten Absichten.<br />

Borisfragte: „Wer ist Kowalski?“<br />

Timsagte: „Gute Frage.“<br />

Ludwig zitierte aus den Beschwerdebriefen.<br />

Seltsamerweise ergab sich aus dem<br />

Exposé, das Kowalski geschrieben hatte, um<br />

seine Mietminderung zu begründen, aus dem<br />

Weihnachtsgefühl, der Stimmung desWeißen<br />

Albums und dem, was man so wusste über<br />

Mecklenburg-Vorpommernund seine Bevölkerung,<br />

eine gewisse Logik, geradezu eine<br />

Zwangsläufigkeit, die Kowalski zurücktrieb in<br />

seine alte Heimat, wo der kranke Vater lebte<br />

und die verunglückte Schwester und derWinterwind<br />

über verlassen Landschaften fegte.Es<br />

schien so,als sei es besser so.Für alle.<br />

Ob-La-Di, Ob-La-Da<br />

Life goes on, bra.<br />

La-la, howthe life goes on.<br />

Siestanden um den Kreidekreis,der Ludwig<br />

und ihr denWeginKowalskisWelt öffnen<br />

würde,wie um ein Lagerfeuer.<br />

„Es lohnt sich jedenfalls kaum noch, eine<br />

Wohnung zu kaufen“, sagte Kai.<br />

„Mit dem Mietendeckel“, sagte Vera,<br />

seine Frau.<br />

Sie hatten vor zwei Jahren eine Vier-Zimmer-Wohnung<br />

in Pankowgekauft, nachdem<br />

Kai eines dieser Sachbücher über einen unmittelbar<br />

bevorstehenden Finanzcrash gelesen<br />

hatte. Jetzt hing ihm die Wohnung wie<br />

eine Stahlkugel am Bein, sagte er. Die Familie,<br />

die dort wohnte, war jünger als sie. Drei<br />

Kinder, ein Park vor der Tür, und wie es aussah,<br />

würde der Fluglärm über Pankow demnächst<br />

auch noch stoppen. DieMiete war gedeckelt,<br />

die würden nie ausziehen. Wahrscheinlich<br />

dachten sie über ein viertes Kind<br />

nach. Kaiwünschte sich bestimmt, dass dieser<br />

verdammte BER nie aufmachen würde.<br />

Seine Frau Vera redete von Schmiergeldern<br />

und illegalen Untermietverhältnissen, von<br />

einem <strong>Berliner</strong> Wohnungsschwarzmarkt.<br />

„Außerdem werden Investoren abgeschreckt“,<br />

sagte Kai. „Internationale Investoren.“<br />

Alle wussten, dass er nur von der Wohnung<br />

in Pankow redete, aber es war Weihnachten,<br />

und so unterbrach ihn niemand.<br />

Jennifer dachte, wie seltsam es war, dass<br />

dieser Mietendeckel ausgerechnet Kowalski<br />

auf den Kopf gefallen war,den er doch, wenn<br />

sie es richtig verstand, eigentlich schützen<br />

sollte.<br />

Paula spielte ihnen auf dem Handy den<br />

neuen Trailer der BVG vor, indem die <strong>Berliner</strong><br />

Unzulänglichkeit gefeiert wurde. Sie<br />

schienen stolz darauf zu sein, dass sie zu<br />

spät kamen, dass ihre Fahrkartenautomaten<br />

nicht funktionierten und ihre Busfahrer<br />

den Leuten die Tür vor der Nase<br />

schlossen. Eine Fremdheit befiel Jennifer,<br />

hier in der Stadt, hier in diesem Stadtbezirk,<br />

in diesem Wohnzimmer, andiesem

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