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Berliner Zeitung 21.12.2019

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6 21./22. DEZEMBER 2019<br />

IMAGO IMAGES (3)<br />

Shaughnessy Bishop-Stall kann sich noch sehr gut an seinen<br />

ersten Kater erinnern. Mit15Jahren ist er mit Freunden<br />

ans Meer gefahren und hat literweise Labatt Blue<br />

weggebechert. Es gab eigentlich keinen Grund zum Feiern,<br />

ganz im Gegenteil, er wollte vielmehr seinen Kummer in Alkohol<br />

ertränken. Seine Freundin hatte am selben TagSchluss mit<br />

ihm gemacht und angekündigt, dass sie nach Frankreich ziehen<br />

würde. Als er wenig später nach dem Trinken nach Hause kam<br />

und seine Mutter ihm die Tür öffnete, musste er sich auf der<br />

Veranda übergeben. DerTag danach war schlimm –seiner Mutter<br />

schaute er nicht mal in die Augen.<br />

Zu dem Zeitpunkt konnte der junge Kanadier nicht wissen,<br />

dass er einesTages ein Kater-Experte sein würde.Dass er ein Buch<br />

über dieses gesellschaftliche Leidensthema schreiben würde:<br />

„Verkatert: Der Morgen danach“, heißt es. Esist eine Sache, sich<br />

heftig zu betrinken und die Kopfschmerzen sowie Übelkeit in<br />

Kauf zu nehmen. Es ist eine völlig andere Sache, sich wissenschaftlich<br />

und mit großer Freude und Absicht an die Sache heranzutasten,<br />

um herauszufinden, warum es noch kein Heilmittel<br />

gegen den Kater gibt. In seinem Buch bringt sich Shaughnessy Bishop-Stall<br />

in die verrücktesten Situationen, um ein effektives<br />

Heilmittel zu finden: Er nimmt am „Polar Bear Plunge“ teil, bei<br />

dem sich mutige Schwimmer in sehr kaltes Wasser stürzen, er<br />

steigt in einen Kampfjet über der Wüste von Las Vegas, und er<br />

springt –natürlich mit entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen<br />

–aus 260 Meter Höhe vomDach eines Hotels.Und dann testet<br />

er auch herkömmlichere Methoden wie Olivenöl, Rollmops,<br />

Konterbier.All das,wirklich alles,imverkaterten Zustand.<br />

Um mit Bishop-Stall über dieses Buch und vorallem über sein<br />

abenteuerreiches Leben zu sprechen, kann man den Autor zurzeit<br />

nur per Skype erreichen. Er ist mal wieder „on the road“, wie<br />

er sagt, aber diesmal nur auf Reisen mit seinem 9-jährigen Sohn.<br />

Wird er da inzwischen auch von wildfremden Leuten auf das<br />

Buch angesprochen? „Ja, das kommt ständig vor. Für sie bin ich<br />

eben ein Experte.Was auch richtig ist, ich habe schließlich zehn<br />

Jahre andiesem Buch gearbeitet, und wenn ich mich nicht gut<br />

auskennen würde,dann hätten wir ein Problem. Trotzdem ist das<br />

alles etwas befremdlich für mich. Als Journalist bin ich normalerweise<br />

der Typ, der Fragen stellt. Jetzt werdeich ständig vonMenschen<br />

gefragt, ob ich ihnen weiterhelfen kann.“<br />

WIE DAS BUCH ZUSTANDE KAM, VERDIENT EIN BUCH FÜR SICH.<br />

Auch hier war reichlich Alkohol im Spiel. Nach der Veröffentlichung<br />

seines letzten Buchswar Bishop-Stall auf einer Party. Dort<br />

traf er eine alte Freundin, die seit kurzemarbeitslos war.Sie überlegten<br />

sich gemeinsam, was sie als nächstes tun könnte, und Bishop-Stall<br />

schlug ihr vor, sogenannte Hangover-Kits an Studenten<br />

zu verkaufen, also kleine Täschchen mit Wasser undAspirin,<br />

weil diese könnte man immer gut gebrauchen.„Nach ein paar Tagen<br />

bekomme ich dann ein Anruf von einem PR-Typen, er fragt<br />

mich, ob ich zur Partyseines Verlages kommen möchte.Ich weiß,<br />

dass es Wein und Käse geben wird, also gehe ich hin. Es stellt sich<br />

heraus,dass dieser Mann mein Gespräch mit dem Hangover-Kit<br />

belauscht hatte und mich fragte, obich ein Buch über Kater<br />

schreiben würde. Natürlich sagte ich zuerst Nein, weil das eine<br />

vollkommen dumme Idee ist. Einganzes Buch über denBrummschädel<br />

am Morgen danach zu schreiben. Aber je mehr wir an<br />

diesem Abend tranken, desto besser wurde die Idee in meinem<br />

Kopf. So wie das eben ist. Und nach zwei Tagen hatte ich einen<br />

Buchvertrag.“<br />

Für ein gesellschaftlich so weit verbreitetes Problem ist es erstaunlich,<br />

dass es noch keine grundlegende medizinische Lösung<br />

gibt. Daswar auch einer der Hauptgründe, warum Bishop-<br />

Stall dieses Buch schreiben wollte.„Es scheint so, als ob wir uns<br />

mit Absicht nicht damit befassen möchten. Wir glauben fest<br />

daran, als Menschen in der Lage zu sein, alles zu lösen, außer den<br />

Kater. Bei diesem Thema scheint plötzlich alles kompliziert zu<br />

sein.So, alshätten wir uns damit abgefunden, als wäreeseinprogrammiert.<br />

Dabei sollte es nicht so sein, es ist ein fundamentales<br />

Problem, das viele betrifft. Ein Heilmittel gegen den Kater sollte<br />

nicht zum Heiligen Gral der Selbstversorgung werden.“<br />

In seinem Buch hat Bishop-Stall jenen „Heiligen Gral“ gefunden<br />

–zumindest für sich persönlich. Es ist eine Formel, die er<br />

Das große<br />

Brummen<br />

Der Kater ist ein treuer Begleiter,geradean<br />

den Feiertagen. Shaughnessy Bishop-Stall hat<br />

das Volksleiden endlich erforscht<br />

VonSchayanRiaz<br />

Shaughnessy Bishop-Stall<br />

nach jahrelanger Rechercheselbsterfunden hat. Siehilft ihm regelmäßig,<br />

und viele seiner Freunde profitieren auch davon. Bislang<br />

hat sich niemand bei ihm gemeldet und gesagt, dass es nicht<br />

funktionieren würde. ImGrunde handelt es sich um eine Mischung<br />

aus Vitaminen und Kräutern, die man als Tabletten nach<br />

dem Trinken und vor dem Schlafengehen einnimmt –genauer<br />

genommen die Vitamine B1, B6 und B12, Mariendistel, N-Acetylcystein,<br />

Magnesium undWeihrauch; gelegentlich experimentiert<br />

er auch mit Cannabidiol (CBD). Egal, wie viel man trinkt, man<br />

wacht unversehrt auf. Das einzige Problem dabei ist, dass<br />

Bishop-Stall manchmal viel zu dicht ist, um an die Tabletten zu<br />

denken. „Dieser Part kann etwas knifflig sein. Wenn man viel<br />

trinkt, dann kann es gelegentlich vorkommen, dass man zu betrunken<br />

ist und das Wesentliche vergisst.“<br />

NACH SEINEN ANFÄNGLICHEN HERZSCHMERZ-ESKAPADEN gab<br />

es einige weitere Momente, indenen Bishop-Stalls Alkoholkonsum<br />

ausartete und ihm Probleme bereitete. Wie fast jeder Jugendliche<br />

hatte auch er eine rebellische Phase, inder er ständig<br />

feierte.Dochweilihm dasTrinken nie verboten wurde,normalisierte<br />

sich das Ganze ziemlich schnell für ihn. Seine Eltern, sie<br />

eine katholische Irin, er ein polnischer Jude, waren beide trinkfeste<br />

Journalisten, und das prägte ihn gewissermaßen in der<br />

Kindheit. Wenn er heute zurückdenkt, dann waren Familienessen<br />

immer die schönsten Erlebnisse für ihn. „Es gab immer sehr<br />

viel Wein. Und das habe ich viel mehr genossen als mit meinen<br />

Freunden saufen zu gehen. Diese Abende haben mich möglicherweise<br />

vorSchlimmeres bewahrt.“<br />

Nun ist Bishop-Stall begeistert, dass sein Buch auf Deutsch<br />

übersetzt wurde. Mit Deutschland verbinden ihn besonders<br />

feucht-fröhliche Erinnerungen. „Ich werde niemals vergessen,<br />

als ich 2014 auf dem Oktoberfest war.Ich warineinem dieser großen<br />

Bierzeltemit meiner Maßund Federhut, als plötzlich Arnold<br />

Schwarzenegger auftauchte. Ich war mir irgendwie nicht sicher,<br />

ob ich das nur träume oder ob es einer der vielen bizarren Momente<br />

in meinem Leben ist. Aber es gibtsogar einenFotobeweis!<br />

Arnold Schwarzenegger steht zehn Meter entfernt von mir und<br />

dirigiert.Die Musiker hörenalle aufihn. Underverschüttet überall<br />

Bier. Überall im Bierzelt. Das war mein Oktoberfest-Highlight.“<br />

Bishop-Stalls Buch ist voll mitsolchen Momenten. Als Journalist<br />

macht er regelrechtJagdauf sie.Sonstwäre„Verkatert“ –mangels<br />

einesbesserenAusdrucks –aucheine trockene Affäre geblieben.<br />

Undumsichüber diesem Zeitraumvon knappzehnJahren<br />

überWasser zu halten, nahm er ständig Aufträge an, die er gut mit<br />

seinem Buchprojekt verbinden konnte. Als Reisejournalist für<br />

verschiedene Zeitschriftengelang ihm das auch sehr gut. Musste<br />

er mal eine Rezension über ein neues Hotel schreiben, dann<br />

konnte er einfach das lokale Kater-Heilmittel inder jeweiligen<br />

Stadt ausprobieren, nachdem er sich an der Mini-Bar bediente.<br />

Undmusste er über Dinge schreiben, bei denen er sich ohnehin<br />

betrinken musste, beispielsweise einer Weintour oder einem<br />

Whiskey-Tasting, dann wareseine Win-win-Situation fürihn.<br />

So wie auf der „Bar Convent“ in Berlin, einer Barkeeper-Messe<br />

in der Hauptstadt. „Es ist wie Disneyland für Alkoholiker.Alle Getränke<br />

sind gratis. Eskommen die besten Barkeeper nach Berlin<br />

und mixen dir jedes Getränk zusammen, jede Mischung, nach<br />

der du fragst. Ich hatte eine wahnsinnig gute Zeit, obwohl ich<br />

meinen Pass und meinen Geldbeutel verloren hatte und eineWoche<br />

lang auf der Straße lebenmusste.Aber es war Berlin, deswegen<br />

machte es mir nichts aus.Was füreine großartige Stadt!“<br />

Man glaubt ihm das gerne: Andere Menschen wären in so einer<br />

Situation in Panik ausgebrochen. Bishop-Stall ist da anders.<br />

Er istder Kanadier ohne PapiereinBerlin. MitDrink in der Hand.<br />

Undder Gewissheit, am nächsten TagkeinSchädelbrummen zu<br />

haben.<br />

SchayanRiaz<br />

nimmt sich fest vor, auch mal an<br />

einem „Polar Bear Plunge“ teilzunehmen.

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