UNTERWEGS IN FRANKREICH Centre-Val de Loire Das schönste Dorf des Universums! » Dieses nicht gerade zurückhaltende Kompliment machte der « Dichter Jean de la Fontaine (1621-1695) der Stadt Richelieu, nachdem er sie besucht hatte. Seine Aussage erscheint zwar etwas übertrieben, man muss sie jedoch im Kontext der Epoche sehen. Im 17. Jahrhundert waren die Städte des Königreichs Frankreich alle nach demselben, aus der Antike stammenden Modell gegliedert: Wohngebäude und Geschäfte waren um ein einziges Zentrum – das Forum – herum angeordnet; meist war dies eine Kirche. Die Straßen bestanden aus gestampftem Lehmboden, Wasser war nur selten vorhanden, in aller Regel musste man es außerhalb des Ortes aus tiefen, schlecht zugänglichen Brunnen holen. Die hygienischen Bedingungen waren rudimentär, und da es kein durchdachtes Abflusssystem gab, stank es oft bestialisch. Dies war auch der Grund, weshalb sich im Mittelalter Epidemien immer rasend schnell ausbreiteten. Die französische Stadt des 17. Jahrhunderts war also mehrheitlich ein der Gesundheit unzuträglicher Ort, der die Menschen nicht gerade zum Träumen verleitete. Insofern ist nachvollziehbar, dass La Fontaine bei der Entdeckung von Richelieu, einer Stadt, die sich durch ihre Modernität von anderen urbanen Ansiedelungen deutlich abhob, überrascht war und in Entzücken geriet. Ein außergewöhnliches Städtebauprojekt Richelieu ist ein außergewöhnliches Städtebauprojekt, das von einem ebenso außergewöhnlichen Kopf entwickelt wurde, nämlich von Kardinal Richelieu. Dieser Mann mit sehr hohen Ansprüchen und einem manchmal schwierigen Charakter modernisierte die Organisation der Staatsgewalt und die Art, das Land zu regieren. Richelieu war nicht nur ein Kirchenmann, sondern auch ein Staatsmann und in dieser Funktion der wichtigste Minister unter Ludwig XIII. (1601-1643), eine Art Pendant zum heutigen Premierminister. Wie so viele andere seiner politischen Zeitgenossen hatte auch er den Hang dazu, seine Macht unter Beweis zu stellen. Doch er war in gewisser Weise ehrgeiziger als andere und wollte eine « neuartige Stadt » schaffen, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen sollte: Richelieu, « seine » Stadt. In gleicher Weise wie der Herzog von Sully (1549-1651) Stadt Henrichemont (Cher) erbauen ließ und der Herzog von Nevers (1580- 1637) Charleville-Mezières (Ardennen) begründete, kam Kardinal Richelieu auf die Idee, eine Stadt aus der Erde zu stampfen, die seine Handschrift trug, die ihm gerecht werden sollte. Der Kardinal besaß dafür bereits ein Grundstück sowie ein Schloss, das er von seinen Vorfahren geerbt und in dem er einen Teil seiner Jugend verbracht hatte. Es war durchaus im Rahmen des Möglichen, den Bau zu erweitern und auf dem angrenzenden Land die zukünftige « neue Stadt » zu bauen. Die Mittel dazu waren vorhanden. Der Kardinal bezog sowohl von der Kirche als auch vom Staat Einnahmen, war darüber hinaus ein guter Investor und verwaltete ein beträchtliches Immobilienvermögen, bestehend aus mehreren herrschaftlichen Häusern und Schlössern in Paris und der Provinz. Am Ende seines Lebens betrug sein Vermögen schätzungsweise 22,4 Millionen Pfund, ein erheblicher Betrag für die damalige Zeit. Richelieu begann also, auf dem jungfräulichen Boden rund um das Familienschloss die neue Ansiedelung zu konstruieren. Nach seinen Vorstellungen war das die Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung seines Projektes einer idealen Stadt: Sie durfte nicht auf einem bereits existierenden Fundament errichtet werden, sondern musste aus dem Nichts entstehen. Es war im Übrigen ein Leichtes, den König davon zu überzeugen, ihm die Genehmigung für die Umsetzung seiner Pläne zu erteilen. Ludwig XIII. hatte vollstes Vertrauen in Richelieu und dieser wusste sich in jeder Situation überzeugend zu geben, auch auf die Gefahr hin, die Wahrheit ab und zu etwas « zurechtrücken » zu müssen: Der seriöse Kardinal hatte nicht davor zurückgeschreckt, sogar den Papst zu belügen, indem er einen Taufschein fälschte, mit dem er sich zwei Jahre älter machte, damit er Bischof werden konnte. Ein kleines « Arrangement », das der Papst, als er in der Folge die Wahrheit erfuhr, ihm im Übrigen verzieh … Ludwig XIII. erteilte also am 21. Mai 1631 dem Kardinal die Genehmigung, ein « mit Befestigungsmauern und Gräben umgebenes Städtchen » zu errichten. Damit sprach er Richelieu gewissermaßen seine Dankbarkeit und Anerkennung für die zahlreichen Dienste aus. Ein « Marketingcoup » Jetzt wurde es ernst. Als gewitzter Investor wusste Richelieu, dass eine Stadt nichts ohne ihre Bewohner ist. Daher wollte er schnell Lust darauf machen, in das Projekt zu investieren, um dann dort zu wohnen. Er stellte den zukünftigen Einwohnern zahlreiche Privilegien in Aussicht, zum Beispiel ein kostenloses Grundstück, sofern man sich verpflichtete, es zu bebauen, oder die Schaffung zahlreicher Messen und Märkte, da solche Veranstaltungen zur damaligen Zeit sehr gefragt waren. Der Erfolg stellte sich sogleich ein, zumal die Möglichkeit, die Erwartungen des Kardinals zu erfüllen, für viele reiche Investoren damals ein praktisches Mittel war, mit diesem in Kontakt zu kommen. Richelieu wusste das nur zu genau und er nutzte es aus. Indem er sein öffentliches Image in den Dienst seines Immobilienprojektes und seiner politischen Ambitionen stellte, gelang ihm ein gewaltiger « Marketingcoup ». Hat man eines der Eingangstore in die befestigte Stadt Richelieu durchquert, entdeckt man eine für die damalige Zeit äußerst moderne Gliederung mit ganz geraden Straßen. Im Park, der sich außerhalb der Befestigungsanlagen befindet, gibt es unter anderem einen schönen Rosengarten. 66 · Frankreich erleben · <strong>Herbst</strong> <strong>2019</strong>
Frankreich erleben · <strong>Herbst</strong> <strong>2019</strong> · 67