Nr. 72 - Herbst 2019
Ecomusée d'Alsace: das Unmögliche möglich machen. Bretagne: die verschwiegene Geschichte der grünen Algen Baskenland: Gorges de Kakuetta: das « wilde Ende » Frankreichs Centre-Val de Loire: Richelieu: "das schönste Dorf des Universums!" Chantals Rezept: Kabeljaurücken mit Senfsauce
Ecomusée d'Alsace: das Unmögliche möglich machen.
Bretagne: die verschwiegene Geschichte der grünen Algen
Baskenland: Gorges de Kakuetta: das « wilde Ende » Frankreichs
Centre-Val de Loire: Richelieu: "das schönste Dorf des Universums!"
Chantals Rezept: Kabeljaurücken mit Senfsauce
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
KULTURSCHOCK<br />
Vor einem leer stehenden Geschäft, nur wenige<br />
Schritte vom Place de la Comédie entfernt, ganz in<br />
der Nähe des Triangle d’Or, eines der schicksten<br />
Viertel von Bordeaux. Innen am Schaufenster klebt ein<br />
kleines Schild: « Hier eröffnet demnächst ein Birkenstock-<br />
Schuhgeschäft. » Man könnte es beinahe übersehen.<br />
Verweilt man jedoch kurze Zeit vor dem Laden und hört<br />
den Bemerkungen zu, welche die Passanten im Vorübergehen<br />
fallen lassen, wird klar, dass dieses Schild durchaus für<br />
Diskussionsstoff sorgt. Eine kleine « Auslese » der Äußerungen:<br />
« Hast du gesehen? Hier eröffnet ein Birkenstock-<br />
Laden! Unglaublich! »; « Birkenstock? Werden die noch<br />
gekauft? »; « Birkenstock? Was ist das schon wieder?<br />
Schuhe, oder? Gibt es davon mehrere Modelle? »; « Mama<br />
schau, das ist genial! Da gibt es bald ein Geschäft mit<br />
Schuhen, wie Opa sie trägt! »; « Endlich! Darauf habe ich<br />
lange gewartet! Es leben die Deutschen! »; « Birkenstock?<br />
Ich glaube, ich träume! Die Priester werden sich freuen! »<br />
Offenbar lässt die anstehende Eröffnung die Passanten<br />
nicht unberührt. Und die Beziehung der Franzosen zu dieser<br />
Schuhmarke scheint nicht gerade Liebe auf den ersten<br />
Blick zu sein …<br />
Im Grunde genommen wurden Birkenstock-Schuhe<br />
im Hexagon lange Zeit als seltsame Objekte angesehen,<br />
als ein Mittelding zwischen Gesundheitsschuhen und<br />
« Jesuslatschen ». Man amüsierte sich darüber, dass Lehrer<br />
– vor allem Deutschlehrer – sie offensichtlich mochten,<br />
und dass diese sie noch dazu gerne mit Socken – vorzugsweise<br />
mit weißen – trugen! In Frankreich der absolute<br />
Horror, die ultimative Geschmacksverirrung. In diesem<br />
Land will man schließlich immer noch glauben machen,<br />
Herren trügen ausschließlich auf Hochglanz polierte und<br />
Frauen selbstverständlich hochhackige Schuhe – und alle<br />
Modelle seien natürlich der allerletzte Schrei … So ein<br />
Quatsch! Man muss dort nur einmal durch die Straßen<br />
gehen und dabei den Blick nach unten richten, um festzustellen,<br />
dass auch in diesem Land Turnschuhe und andere<br />
bequeme Schuhe dominieren und dass diese zudem nicht<br />
einmal besonders gut gepflegt sind. Ganz zu schweigen<br />
von der Vorliebe in Sachen Schuhe bei den Franzosen zu<br />
Hause, wo die guten alten Pantoffeln den Birkenstock-<br />
Schlappen in nichts nachstehen.<br />
Und dennoch machte man sich in Frankreich lange<br />
Zeit über dieses als « typisch deutsch » eingestufte Schuhwerk<br />
lustig. Das ging so weit, dass man « Birks » als eine<br />
Art Symbol der Abgrenzung zwischen den beiden Ländern<br />
betrachtete. Als richtiggehenden Kulturschock. Als<br />
ob es zwei Vorstellungen von Fußbekleidung gäbe: auf<br />
deutscher Seite « gesunde, bequeme » Schuhe, die jedoch<br />
von den Franzosen als « unglaublich hässlich » angesehen<br />
wurden, und auf französischer Seite zwar nicht unbedingt<br />
bequeme, aber dafür « unglaublich schöne » Schuhe,<br />
die schon für sich alleine ein Symbol des « französischen<br />
Geschmacks » sind … Jahrzehntelang war gar nicht daran<br />
zu denken, dass die Menschen im Nachbarland ihre<br />
Meinung zu diesem Thema ändern würden. Selbst kulturhistorische<br />
Argumente, die im Grunde genommen<br />
dort immer ziehen, halfen in diesem Fall nichts: dass die<br />
Ursprünge von Birkenstock bis ins Jahr 1733 zurückreichen,<br />
dass die Schuhe von einem deutschen Familienunternehmen<br />
hergestellt werden, dass sich dieses Unternehmen<br />
sowohl sozial- als auch umweltpolitisch engagiert …<br />
Nichts zu machen. Birkenstock-Schuhe waren altmodisch.<br />
Punkt.<br />
Doch in den 90er-Jahren setzte langsam eine Veränderung<br />
ein. Auslöser waren Fotos auf Titelseiten von Modemagazinen.<br />
Internationale Stars trugen plötzlich solche<br />
Ökosandalen – und das noch dazu in der Öffentlichkeit.<br />
« Natürlich die Engländer und Amerikaner … », dachten<br />
die Franzosen zunächst, weiterhin davon überzeugt, den<br />
« ultimativ guten Geschmack » zu haben. Bis sich die Veröffentlichungen<br />
in der Presse häuften und die orthopädischen<br />
Vorteile der Birkenstock-Schuhe auch in Frankreich<br />
endlich bekannt – und anerkannt – wurden. Da sich das<br />
Phänomen nun nicht mehr nur durch die Mode, sondern<br />
auch durch gesundheitliche Aspekte erklären ließ, konnte<br />
man sich schließlich von den Korksohlentretern überzeugen<br />
lassen. Und so begann der Absatz vor einigen Jahren<br />
plötzlich in die Höhe zu schnellen, eine Entwicklung, die<br />
nach wie vor anhält. In diesem Sommer war die deutsche<br />
Marke in allen Zeitungen und Zeitschriften präsent.<br />
Die altmodischen Schuhe von einst sind nun auch in<br />
Frankreich der « Megatrend », man bekommt sie in den<br />
meisten Schuhgeschäften, und sie haben es sogar bis auf<br />
die Laufstege der Modeschauen geschafft! Der deutsche<br />
Birkenstock-Schuh das Nonplusultra der französischen<br />
Mode? Das lässt schmunzeln. Wenn das keine Rache für<br />
die Vorurteile in der Vergangenheit ist …<br />
94 · Frankreich erleben · <strong>Herbst</strong> <strong>2019</strong>