didacta 04/20
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BILDUNG<br />
Mut zum Lesen<br />
Sie schaffen Vertrauen bei der Leseförderung<br />
und dem Sprachunterricht: Lehrkräfte mit<br />
Migrationshintergrund. Ein Lehrerinnenporträt.<br />
Text Marisa Balz<br />
AUF EINEN BLICK<br />
› Lehrkräfte mit Migrationshintergrund<br />
haben laut einer Studie einen positiven<br />
Einfluss auf Schülerinnen und Schüler.<br />
› Besonders die Leseleistung wird gefördert.<br />
› Texte aus fremden Kulturen sind<br />
dabei didaktisch wertvoll.<br />
Deutschstunde in der 9. Klasse an der Geschwister-<br />
Scholl-Stadtteilschule in Hamburg. Unterrichtsthema<br />
ist Lyrik. Melek* liest drei Strophen aus der deutschen<br />
Übersetzung des Gedichts „Otobiyografi“ von<br />
Nazim Hikmet, einem türkischen Dichter. „Welche<br />
Gemeinsamkeiten gibt es zu Kurt Tucholskys Gedicht<br />
Einkehr?“, fragt Lehrerin Hülya Ösün in die Klasse. Die<br />
Schülerinnen und Schüler wissen bereits aus der vorherigen<br />
Stunde, dass beide Dichter im Exil gelebt haben.<br />
„Die Sehnsucht nach der Heimat“, antworten sie.<br />
Lehrerin mit Spezialfähigkeiten<br />
Ausländische Literatur ist eine Spezialität von Hülya Ösün,<br />
59 Jahre alt, Deutsch- und Türkischlehrerin. Sie ist seit<br />
30 Jahren im Dienst. Derzeit an einer Stadtteilschule,<br />
früher an einer Gesamtschule mit integrierter Grundschule<br />
und gymnasialer Oberstufe. Ihr Name verrät, sie ist türkischer<br />
Herkunft. Als sie nach Deutschland gekommen<br />
ist, war sie fünf Jahre alt. In den ersten drei Jahren in der<br />
Grundschule konnte sie weder lesen noch schreiben. Ein<br />
einschneidendes Erlebnis. „Ich war unsicher“, erinnert sie<br />
sich. Ein Phänomen, das sie auch heute bei Schülerinnen<br />
und Schülern mit Migrationshintergrund feststellt. „Anders,<br />
als in Deutsch, blühen sie im Türkischunterricht auf und<br />
lesen freiwillig laut“, berichtet sie von einzelnen Fällen.<br />
Jetzt liest Ali* weiter aus der deutschen Übersetzung<br />
des türkischen Gedichts vor. Er spricht, wie Melek, die<br />
verschiedenen S-Laute einwandfrei aus. Gerade das<br />
scharfe S ist sonst eine typische Fehlerquelle für Kinder<br />
mit Migrationshintergrund, erklärt Ösün, denn selbst für<br />
deutsche Muttersprachler ist die richtige Schreibweise<br />
und Aussprache häufig schwierig. Die Deutsch- und Türkischlehrerin<br />
beobachtet auch, dass Schülerinnen und<br />
Schüler ohne ausreichende Deutschkenntnisse falsche<br />
Satzstellungen in Aufsätzen schreiben. „Das sind häufig<br />
Transferfehler“, erläutert Ösün. Sie schätzt ihre Zweisprachigkeit,<br />
löst die Übertragungsfehler schnell auf.<br />
Texte aus anderen Ländern<br />
Eine aktuelle Studie des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung<br />
gibt Ösün Recht. Sie belegt, dass Lehrkräfte<br />
mit Migrationshintergrund die Lesefähigkeit von<br />
Schülerinnen und Schülern deutlich steigern und dass zweisprachige<br />
Lehrerinnen und Lehrer auch Sprachen besser<br />
vermitteln und dadurch besonders Schülerinnen und Schüler<br />
mit Migrationshintergrund fördern können. „Ich kann Sprachvergleiche<br />
anstellen und kenne die kulturelle Unterschiede“,<br />
sagt Ösün. Daher gehören zu ihren Unterrichtsmaterialien<br />
Texte aus anderen Ländern. Protagonisten tragen Namen<br />
aus anderen Kulturkreisen. „Die Schülerinnen und Schüler<br />
fühlen sich wertgeschätzt, sind motiviert und lesen gerne“,<br />
fasst Ösün ihre Einschätzung zusammen.<br />
Kulturelle Vielfalt an Schulen<br />
Die Gymnasiallehrerin ist im Hamburger Netzwerk „Lehrkräfte<br />
mit Migrationsgeschichte“ aktiv. Das Netzwerk<br />
Foto: © Monkey Business Images / Shutterstock.com<br />
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