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2012 - Ärztliche Weiterbildung in Sachsen-Anhalt

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Ines Geipel<br />

Der Amok-Komplex<br />

oder die Schule des Tötens<br />

Klett-Cotta Verlag, Stuttgart <strong>2012</strong>, ISBN 978-3-608-94727-7,<br />

geb. <strong>in</strong> Oktav m. Schutzumschl., 342 S., € 19,25<br />

Amok, dieses aus dem Malaiischen <strong>in</strong>s<br />

Deutsche gekommene Wort für bl<strong>in</strong>de<br />

Wut, erregt Panik. Es alarmiert im<br />

Ereignisfalle Lehrer, Schüler, Polizei,<br />

Eltern und Politiker und verbreitet<br />

überhaupt Angst.<br />

Ines Geipel ist Professor<strong>in</strong> für Verssprache<br />

an der Hochschule für Schauspielkunst<br />

„Ernst Busch“ <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. Als<br />

Schriftsteller<strong>in</strong> hat sie ihren Focus<br />

besonders auf die unterdrückte Literatur<br />

und auf das systematische Dop<strong>in</strong>g<br />

im Leistungssport, war sie doch als<br />

prom<strong>in</strong>ente Spr<strong>in</strong>ter<strong>in</strong> <strong>in</strong> Jena selbst<br />

betroffen. Der vielfachen Tod br<strong>in</strong>gende<br />

Amoklauf des jugendlichen<br />

Schützen Robert Ste<strong>in</strong>häuser im April<br />

2002 <strong>in</strong> Erfurt hat sie offensichtlich für<br />

e<strong>in</strong>e höchst problematische Entwicklung,<br />

nun auch <strong>in</strong> Deutschland, sensibilisiert.<br />

Im vorliegenden Buch<br />

berichtet sie bee<strong>in</strong>druckend, ausdruckstark<br />

und publizistisch meisterhaft über<br />

fünf Amokläufe, davon drei ausgewählte<br />

<strong>in</strong> der Bundesrepublik, nämlich<br />

den von Erfurt im schönen Thür<strong>in</strong>gen<br />

2002 (18 Tote), den von Emsdetten im<br />

Münsterland 2006 (6 Schwerverletzte)<br />

und den von W<strong>in</strong>nenden bzw. Wendl<strong>in</strong>gen<br />

<strong>in</strong> Württemberg 2009 (18 Tote).<br />

Als Prolog stellt sie das Massaker von<br />

Port Arthur auf Tasmanien 1996 mit 35<br />

Toten und zahlreichen Verletzten<br />

voran. Das unfassbare Verbrechen von<br />

Utoya <strong>in</strong> Norwegen 2011 (77 Tote)<br />

bildet im Epilog mit se<strong>in</strong>er Steigerung<br />

den vorläufigen Abschluss. Die Autor<strong>in</strong><br />

verpasst ihrem leider sehr spannenden<br />

Buch ke<strong>in</strong> festes Analyseschema. Sie<br />

schreibt vielmehr jeder dieser Bluttaten<br />

e<strong>in</strong>e besondere Vignette zu. In Australien<br />

ist es der transgenerationelle<br />

Aspekt, <strong>in</strong> Erfurt das politische Umfeld,<br />

<strong>in</strong> Emsdetten das Täterprofil, <strong>in</strong><br />

W<strong>in</strong>nenden die Familie und das deutsche<br />

Waffenpr<strong>in</strong>zip, <strong>in</strong> Norwegen die<br />

Ideologisierung von Täter und Teilen<br />

der Gesellschaft. Sie widmet <strong>in</strong> allen<br />

Fällen dem Lebensweg bzw. Werdegang<br />

der Täter zu emotionsfreien<br />

Mordautomaten viel Aufmerksamkeit.<br />

Unverkennbar will sie erhellende<br />

Geme<strong>in</strong>samkeiten herausfiltern. Die<br />

Frage nach dem Warum treibt ja nicht<br />

nur sie um. Es gel<strong>in</strong>gt ihr anhand der<br />

Recherchen vor Ort, <strong>in</strong> zugängigen<br />

Unterlagen und <strong>in</strong> Gesprächen mit<br />

Betroffenen und Zeugen e<strong>in</strong>e Menge<br />

H<strong>in</strong>tergrund<strong>in</strong>formationen und Handlungsmuster<br />

freizulegen, die Erklärungsansätze<br />

bieten. So kristallisieren<br />

sich bei den Tätern u. a. e<strong>in</strong> Verlust von<br />

sozialer B<strong>in</strong>dung mit zunehmender<br />

Isolierung, das schulische Leistungsversagen<br />

mit Druckaufbau, hilflose<br />

elterliche Reparaturversuche, e<strong>in</strong>e<br />

emotionale Verarmung, die Aufrüstung<br />

mit Computer- und Spieletechnik und<br />

der relativ problemlose Zugang zu<br />

großkalibrigen Feuerwaffen <strong>in</strong>cl.<br />

Schießtra<strong>in</strong><strong>in</strong>g heraus. Erotische Beziehungen<br />

spielen ke<strong>in</strong>e Rolle. H<strong>in</strong>zu<br />

kommt der Rückzug der sämtlich<br />

männlichen und überwiegend jugendlichen<br />

Täter <strong>in</strong> die Virtualität des Internets<br />

und die Verlagerung ihres Lebens<br />

<strong>in</strong> die weitgehend unkontrollierte und<br />

menschenverachtende Welt der sog.<br />

Spiele. Frust, Druck und Angst führen<br />

zu Ego-Shooter und Schlimmerem.<br />

Irgendwann steigert sich die Gier nach<br />

maximaler Resonanz des geplanten<br />

Todesf<strong>in</strong>ales. Es lockt das Ziel, sich mit<br />

göttlichen Attitüden <strong>in</strong> das globale<br />

Gedächtnis der Entsetzlichkeiten<br />

e<strong>in</strong>zubrennen.<br />

Ines Geipel berichtet fesselnd und mit<br />

Erzähltalent unter Verwendung teilweise<br />

verblüffender Wortschöpfungen,<br />

wenn sie z. B. von unehrgeizigen<br />

Birken oder vom Platzen des Historienknotens<br />

spricht. Sie diskutiert ihren<br />

jeweiligen Gegenstand e<strong>in</strong>gehend <strong>in</strong><br />

der spezifischen Fachliteratur und<br />

anhand anderer Dokumente. Ihre politischen<br />

Rückschlüsse s<strong>in</strong>d bemerkenswert,<br />

mitunter etwas zu engagiert; man<br />

wird ihr nicht <strong>in</strong> allem folgen wollen.<br />

Sie macht aber deutlich, dass der<br />

Amoklauf ke<strong>in</strong> schicksalhafter Vorfall<br />

sondern Ergebnis e<strong>in</strong>er langen <strong>in</strong>dividuellen<br />

Entwicklung unter gesellschaftlichen<br />

Vorgaben ist. Die Betroffenheit<br />

danach ist groß, die öffentliche Trauer<br />

ebenso, jedoch wenig anhaltend. Das<br />

Buch will sicher ke<strong>in</strong> Horrorreport<br />

se<strong>in</strong>. Es macht aber Angst. Zu viele von<br />

den zur Katastrophe führenden Konditionen<br />

s<strong>in</strong>d unverändert vorhanden.<br />

Und die therapeutischen Interventionen<br />

bei e<strong>in</strong>igen der o. g. Täter waren<br />

wirkungslos. Man ist nach der Lektüre<br />

für das Thema empf<strong>in</strong>dlich geworden,<br />

vorerst zum<strong>in</strong>dest. Es stellt sich die<br />

Frage: Was brauchen unsere K<strong>in</strong>der,<br />

damit sie Gewalt nicht brauchen?<br />

F.T.A. Erle, Magdeburg<br />

Für Sie gelesen<br />

Ärzteblatt <strong>Sachsen</strong>-<strong>Anhalt</strong> 23 (<strong>2012</strong>) 10 65

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