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Mein Jahr 1945 - Coswig

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Wahrscheinlich konnten sich die amerikanischen Piloten nicht damit abfinden, dass sie sie dort nicht treffen<br />

konnten. - In Zitzschewig lief ein kleines Mädchen von der Hand seiner Großmutter weg aus der Deckung. Es<br />

wurde von den Geschossen zerfetzt.<br />

Dann kam der Befehl: <strong>Coswig</strong> ist innerhalb der nächsten Stunden zu evakuieren. Wir müssen fliehen, wie schon<br />

Millionen Menschen vor uns. Im Elbtal wird die Wunderwaffe eingesetzt, alle Russen werden vernichtet.<br />

Ich packte in meinen Schulranzen Schreibgerät, Bleistifte, Buntstifte und Papier aus dem Schreibtisch meines<br />

Vaters, der bisher für mich tabu war. Dann holte ich aus dem Keller ein Glas Erdbeeren und verspeiste es in der<br />

guten Stube. Das hätte ich sonst nicht gedurft. Muttel duldete heute alles. Die Koffer mit den Sachen, die<br />

mitgehen sollten, standen schon gepackt im Keller. Wir luden sie auf unser Handwägelchen. <strong>Mein</strong>e Oma sagte:<br />

"Macht was Ihr wollt, ich bleibe; wenn ich sterben soll, dann lieber im Hause." <strong>Mein</strong>e Mutter: "Ich lass Dich nicht<br />

allein." Tante Liesel: "Ich gehe, ich gehe." <strong>Mein</strong>e Mutter: "Du bekommst auf der Straße kein Glas Wasser für<br />

Deine Elke". Ein Vorübergehender: "Die Niederwarthaer Brücke ist verstopft, Tausende wollen hinüber". Ich: "Ich<br />

will aber den Russen nicht in die Hände fallen". - Herr Dreißig hatte den gepackten Wagen gesehen. Ruhig und<br />

sachlich wie immer kam er herüber und sagte nur: "Frau Grunert, machen Sie das nicht". Und da blieben wir,<br />

und die ganze Siedlung auch.<br />

<strong>Jahr</strong>zehnte später erfuhr ich von Dr. Tanner, dass die Anglo-Amerikaner die Wirkung ihrer Atombomben<br />

ursprünglich im Elbtal erproben wollten, aber den Versuch doch verwarfen, weil Dresden schon kaputt war. Er<br />

hatte es in sowjetischer Kriegsgefangenschaft von einem Politoffizier der Sowjetarmee erfahren. Der hieß Meier;<br />

ihm hatte in Dresden das Lichtspieltheater Astoria gehört, bis er als Jude in die Sowjetunion emigriert war. - Da<br />

kriegt der Wahnsinn plötzlich ein ganz neues Gesicht! - Eine Bombe auf Heidenau, eine auf Radebeul - wie<br />

wirken die Druckwellen auf das dazwischen liegende Dresden? Aber die Russen rückten schneller vor als die<br />

Bomben fertig wurden. "Bomber-Harris", dynamisch und flexibel, besorgte die Zerstörung von Dresden in einer<br />

Nacht traditionell. Der Atombombenversuch startete dann in Hiroshima und Naghasaki - nicht so "konzertiert",<br />

aber die Wirkung trotzdem ganz "effektiv".<br />

Die Tage liefen weiter. Meldungen und Gerüchte überstürzten sich. "Unser Führer Adolf Hitler" war bei den<br />

Kämpfen um Berlin den Heldentod gestorben. Wie das wirklich war, erfuhren wir einen Monat später.<br />

Die Lebensmittelversorgung auf die Lebensmittelmarken lief weiter wie bisher. Vor den Läden allerdings<br />

Schlangen wartender Frauen und Kinder. Ein SS-Offizier führte einen ganz jungen Soldaten vorbei und hielt ihm<br />

die Pistole auf den Rücken. Eine Frau fasste sich ein Herz: "Lassen Sie doch den Jungen laufen!"<br />

Der Geschützdonner kam immer näher. Er war nur zeitweilig hörbar. Wie an so Vieles, gewöhnten wir uns daran<br />

und hörten nicht mehr hin. Die Frage, was wird, wenn die Kämpfe in <strong>Coswig</strong> sind, bewegte sicher nicht nur uns.

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