22.02.2013 Aufrufe

Mein Jahr 1945 - Coswig

Mein Jahr 1945 - Coswig

Mein Jahr 1945 - Coswig

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

48<br />

Dann mussten sie nach Bozen marschieren. In Bozen war ein Gefangenenlager, wie man es sich vorstellt, mit<br />

Stacheldraht, schlechter Unterbringung und schlechter Verköstigung. Von da ging's mit der Eisenbahn nach<br />

Heilbronn. Das Lager muss katastrophal gewesen sein: Ein Lehmacker auf einer Anhöhe, mit Stacheldraht<br />

umzäunt. Als Unterkünfte zerschlissene Militärzelte, die den Regen durchließen. Unser Vater sagte sich, hier muss<br />

ich mich abhärten. Er besorgte sich einen Eimer, wusch und rasierte sich splitternackt beim Wasserhahn und<br />

duschte sich unter dem Wasserschwall des Eimers ab. Das beobachtete der Lagerarzt, ein Amerikaner, und er<br />

holte unseren Vater als Pfleger in die Sanitätsbaracke. Da hatte er eine ordentliche Aufgabe und bekam auch<br />

etwas bessere Verpflegung. Er konnte sogar seinen Zeltgefährten Essen abgeben.<br />

Als Angehöriger der Organisation Todt gehörte er mit zu den Ersten, die entlassen wurden. Die Amerikaner<br />

entließen aber nur in das Gebiet, das von den Westmächten besetzt war. Mit dem Schreiber, der die<br />

Entlassungsscheine ausschrieb, hatte er dann folgenden Dialog:<br />

"Wohin?"<br />

"Nach Dresden."<br />

"Das ist im Osten, sag' eine andere Stadt!"<br />

"Nach Dresden!!!"<br />

Da schrieb der Schreiber "Dresden" auf den Entlassungsschein. Die risikovolle Hartnäckigkeit unsers Vaters und<br />

die Kulanz des Schreibers erwiesen sich bald als Segen. - Er war frei, ging geradewegs zum Bahnhof. Dort fuhr<br />

bald ein Zug nach Kassel. Interzonenzüge gab es noch nicht. Also, mit der Eisenbahn bis an die der Grenze<br />

nahesten Station, dann zu Fuß weiter. In der Bahn hatte ihn ein Fremder angesprochen, Heimkehrer wie er. Sie<br />

wollten gemeinsam über die "Grüne Grenze" in den Osten. Da unser Vater schwer hörte, war ihm die Begleitung<br />

sehr recht. "Grüne Grenze" nannte man die Grenze außerhalb der kontrollierten Übergangsstellen, die man nur<br />

illegal überschreiten konnte. Die Grenze zwischen der sowjetisch besetzten Zone und den von den Westmächten<br />

besetzten Zonen war geschlossen und bewacht.<br />

Im letzten Ort vor der Grenze baten sie einen jungen Mann, dass er sie zur Grenze bringe. Es war inzwischen<br />

dunkel geworden. Der Bursche brachte sie auch ein Stück, dann sagte er: "Wenn ihr da drüben bei dem<br />

erleuchteten Fenster seid, dann seid ihr drüben." Sie marschierten auf das Haus zu, erreichten es, gingen hinein<br />

und ... - prallten auf einen russischen Offizier, der dort, ohne Besuch zu erwarten, am Tische saß. Die beiden<br />

erschraken. Der Russe stutzte. Geistesgegenwärtig wies der Fremde auf seinen Arm, als ob er da eine Uhr hätte<br />

und fragte: "Wie spät?" Der Russe: "Sperrstunde! Geht nach Hause! " - Schnell aus dem Hause! Wohin? -<br />

Unser Vater und der Fremde versteckten sich in einem benachbarten Obstgarten. Plötzlich hielt der Fremde den<br />

Finger auf den Mund und ging zitternd in die Knie. Ein russischer Soldat kam in den Garten. Unser Vater konnte<br />

ihn nicht hören, aber er sah ihn immer näher kommen. Er konnte ihn fast anfassen. Dann bückte sich der Russe,

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!