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Mein Jahr 1945 - Coswig

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Gefahrenbremsung, die die stehenden Fahrgäste am Fahrerstand zusammenschob. Und ich klammerte wie ein<br />

Affe an der Sprosse. Welcher Schrecken! - Wir erregten für Sekunden kolossales Aufsehen. Dann freuten sich<br />

alle, weil nichts passiert war, hatten großen Spaß an uns, und die Fahrt ging weiter. Wir brachten den Karren<br />

dem Eigentümer heil zurück und fuhren mit der Straßenbahn nach Hause.<br />

*<br />

Im Herbst begann wieder geordneter Schulunterricht. Die meisten Lehrer, die vor dem Zusammenbruch des<br />

nationalsozialistischen Deutschlands bei uns unterrichtet hatten, waren nicht mehr da. Jetzt unterrichteten junge<br />

Lehrer. Die Atmosphäre in der Schule war wesentlich angenehmer. Die Lehrer durften uns Schüler nicht mehr<br />

schlagen. Prügelszenen, wie wir sie noch vor einem <strong>Jahr</strong> erlebt hatten, waren undenkbar geworden. Sie passten<br />

auch nicht mehr in das Schulhaus - obwohl sich an dem Gebäude wenig geändert hatte. Nur Bilder und<br />

Dekorationen, die den Krieg verherrlichten oder die Nationalsozialisten, waren verschwunden.<br />

Wir waren eine reine Jungenklasse. Unsere Klassenlehrerin, Fräulein Wischnowski, unterrichtete Deutsch und<br />

Englisch. Sie gefiel uns Jungen. Trotz des allgemeinen Mangels schaffte sie es, sich flott und elegant zu kleiden<br />

- heute würde man sagen, auch ein bisschen sexy. Schon ihr Auftreten und ihre Sprache - ein sehr gepflegtes<br />

sauberes Deutsch mit leichtem Akzent - ließen uns ihren hohen Bildungsgrad ahnen. Vermutlich hatte sie einige<br />

Semester Germanistik oder Anglistik studiert. Darüber haben wir damals natürlich noch nicht nachgedacht. Eine<br />

Ausbildung als Lehrerin hatte sie sicher nicht. Dafür war ihr Unterricht zu unkonventionell; er war aber sehr<br />

anspruchsvoll. Für die Mentalität von uns Jungen hatte sie ein feines Gespür; sie ging auch auf unsere Späße<br />

ein, doch ohne dass ihr jemals die Disziplin der Klasse aus den Händen geglitten wäre. Ich erinnere mich auch<br />

nicht, dass sie jemals mit uns gezankt hätte. Nur einmal erlebten wir einen heftigen spontanen Ausbruch. - Sie<br />

hatte erzählt, dass sie in Polen geboren sei. Falk, der Pfiffikus unserer Klasse auf der ersten Bankreihe, drehte<br />

sich um und sagte zu uns: "He, ein Polenweib." Sie: "Was sagst du!? Du warst noch nicht eingesperrt, hast<br />

noch nicht nächtelang bis an die Knie im Wasser gestanden, nur weil du Deutscher bist!" Sie bestellte seinen<br />

Vater in die Schule und klärte mit ihm den Zwischenfall. -<br />

Gedruckte Bücher als Unterrichtshilfen gab es nicht. Eine englische Ausgabe von Oscar Wilde: "The devoted<br />

friend" war im Buchhandel erschienen. Wir kauften sie uns. Und sie arbeitete mit uns Seite für Seite durch. Die<br />

erste Klassenwanderung machte sie auf unseren Wunsch gemeinsam mit unserer Parallelklasse, den Mädchen.<br />

Wir wanderten durch den Lößnitzgrund nach Friedewald und dann über die große Wiese und am Hohen Stein<br />

vorbei zurück nach <strong>Coswig</strong>. Wir kannten den Weg, und sie vertraute uns. Auf der großen Wiese machten wir<br />

Rast, lagerten uns im hohen Gras, und sie las uns Anekdötchen vor. Plötzlich kam der Bauer: "Was macht Ihr in<br />

meiner Wiese! Habt ihr denn keinen Lehrer dabei? " Wir sagten im Chor: "Nein." Unsere junge Lehrerin fiel<br />

zwischen den Mädchen gar nicht auf - und sie war froh, dass sie der Bauer nicht zur Verantwortung ziehen

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