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Herr Dreißig war aktiv in der Arbeiterbewegung und Arbeitersamariter gewesen. Eines Tages im Sommer 1933<br />
merkte mein Vater, als er sehr früh zur Arbeit ging, dass der alte Gärtner Martin Männer zu Dreißigs Haus führte.<br />
Bescheidsagen, evtl. Warnen war nicht mehr möglich. Man hatte Herrn Dreißig als Kommunisten denunziert. Sie<br />
schleppten ihn in die <strong>Coswig</strong>er Turnhalle, schlugen ihn grausam zusammen, malten ihm mit Ölfarbe eine rotes<br />
Kreuz auf die Glatze und schickten ihn, so gedemütigt, nach Hause. Auch seine Nachbarin, Frau Ida Schöne vom<br />
Lachenweg 12, wurde verhaftet und in die <strong>Coswig</strong>er Turnhalle gebracht. Sie war parteilos, hatte aber keine Scheu<br />
gehabt, ihre <strong>Mein</strong>ung zu sagen. - Heinz Dreißig, dem Sohn von Herrn Dreißig, erging es ähnlich wie seinem<br />
Vater. An einem sonnigen Tage wurde im Radio eine Veranstaltung der Nationalsozialisten übertragen. Frau Saal,<br />
damals Mieterin in unserem Hause, drehte ihr Radio auf Anschlag und beschallte die ganze Siedlung. Das<br />
ärgerte Heinz. Er blies am offenen Fenster die Internationale auf der Querpfeife. Frau Saal stürzte los, und kurz<br />
darauf wurde Heinz abgeholt. Blutig geschlagen kam er zurück. Er war noch ein Jugendlicher.<br />
*<br />
Nach dem Angriff fuhr die Straßenbahn noch bis zum Stadtrand. Mit ihr kamen Menschen an, die den Flammen<br />
mit Not entronnen waren, noch in Decken gehüllt. Nur Satzfetzen über das Grauen: Die ganze Stadt brennt, die<br />
Kuppel der Frauenkirche nur noch wie ein halbe Zitrone, Menschen wie Fackeln; auf den Elbwiesen die Jockeys<br />
vom Zirkus Sarrasani tot zwischen ihren toten Pferden.<br />
Bei uns bohrende Ungewissheit bis zur Verzweiflung. Da, am späten Abend Klingeln, am Gartentor mehrere<br />
Stimmen. <strong>Mein</strong>e Mutter: "Seid Ihr da?" Antwort: "Alle sind tot, Hans, Gretel, Ursel. Nur die Muttel lebt." <strong>Mein</strong>e<br />
arme Mutter brach in einem Weinkrampf zusammen. Das war zu viel für ihr krankes Herz, zu plötzlich, zu<br />
unvermittelt. Ich stand hilflos bei ihr. Nur ganz langsam erholte sie sich, schluchzte und weinte nur noch leise.<br />
<strong>Mein</strong>e Tante Liesel war gekommen. Der Angriff hatte ihr Wohnviertel nicht zerstört. Am Nachmittag hatten ihr<br />
BDM-Mädchen einen Brief von meiner Oma mit der schlimmen Nachricht überbracht. In ihrem Schrecken hatte<br />
sie ihr 1jähriges Töchterchen Elke in den Kinderwagen gepackt, dazu 2 Koffer mit Sachen, die ihr wichtig waren,<br />
und war die 15 km zu uns nach <strong>Coswig</strong> losgelaufen. 2 BDM-Mädchen, die sie unterwegs traf, haben ihr den<br />
Kinderwagen bis vor unser Gartentor geschoben. Es war für Tante Liesel selbstverständlich, dass meine Mutter<br />
die Elke versorgte und sie sich um ihre Mutter kümmerte.<br />
Am nächsten Morgen fuhr Tante Liesel nach Dresden, um die Mutter zu holen. Wie das ging, weiß ich nicht<br />
genau. Vermutlich mit der Eisenbahn bis Cotta und dann zu Fuß nach Löbtau. - Am Nachmittag kam Tante<br />
Liesel mit meiner Oma in <strong>Coswig</strong> an, sie war erschöpft, aber doch gefasst. Aus ihren Erzählungen erfuhr ich, wie<br />
sich alles zugetragen hatte. Tante Liesel war zu dem Wohnhaus gegangen, sie fand es unzerstört, und es sah<br />
aus wie die Nachbarhäuser. Die Haustür ließ sich öffnen, aber das Haus war leer. Sie ging in das Treppenhaus