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Mein Jahr 1945 - Coswig

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und heftig: "Wo du dein Pistol?!" Er tastet Vater die Hosentaschen ab, zog ihm die Uhr samt dem schönen<br />

Anhänger aus der Tasche und steckte sie ein. Dann schwangen sich die Russen auf ihre Räder und trampelten<br />

hurtig bergan.<br />

*<br />

Von Frühling, Sommer und Herbst habe ich nur den Sonnenschein in Erinnerung. Der Hunger blieb ständiger<br />

Begleiter; er konnte zuweilen quälend sein. Um diese Not etwas mildern zu können, hielten wir Hühner und<br />

Kaninchen. Die hungerten auch mit. Der kleine Garten lieferte nicht genug Futter. Also musste ich an Wegrainen<br />

Futter sammeln. Gartenarbeit, Abwasserpumpen, Jauchegrube leeren ... alles das konnte ich meinen Eltern auch<br />

nicht alleine überlassen.<br />

In der Vorweinachtszeit Geschenke zu basteln, das war eine Selbverständlichkeit. Bei der Holzsammelaktion im<br />

Russendorf hatte ich ein Brett aus dem Modder gezogen. Das war vor einem <strong>Jahr</strong> gewesen. Als wir es zu<br />

Brennholz zersägten, hatte es sich gezeigt, dass es Eichenholz war. Ich hatte einige Stücke vor dem Verheizen<br />

gerettet. Nun probierte ich daran, zu schnitzen. <strong>Mein</strong>e gute Muttel bremste mich nie in meinen Aktionen; im<br />

Gegenteil, sie interessierte sich dafür, was ich machte. Und so hatte sie mich unter Aufsicht, ohne dass ich es<br />

merkte. Bei meinen Schnitzversuchen kam sie an die Werkbank, zeigte mir, wie man das Werkstück einspannt,<br />

wie man das Schnitzmesser hält, wie man am besten die Schnitte führt. Heute frage ich mich, woher sie das als<br />

gelernte Textilverkäuferin wusste. Damals war es mir selbstverständlich, dass Muttel alles konnte. Und so<br />

schnitzte ich dann aus den Resten des Brettes zwei flache Schalen. Die kleine für meine Oma, die größere für<br />

den Papa. Und die Muttel wünschte sich eine Schütte für den Küchenschrank. Die für das Salz war schon lange<br />

kaputt. Sie war aus Steingut gewesen. Zu kaufen gab es die nicht mehr. Also machten wir eine aus Holz. Auch<br />

die Schlösser am Küchenschrank waren kaputt. Ich wollte sie reparieren. Da ich das vor dem Heiligen Abend<br />

nicht geschafft hatte, schenkte ich Muttel einen Gutschein für die Reparatur. Dort hatte ich mich aber überschätzt.<br />

Bestimmt liegt der Gutschein heute noch irgendwo in den Papieren ihres Nachlasses. Mütter heben so etwas auf.<br />

*<br />

Ich hatte in dieser Zeit viel Glück, und ich denke mit Dankbarkeit an sie zurück. Dankbarkeit gegenüber meinem<br />

Schicksal, Dankbarkeit gegenüber meinen Eltern. Trotz der Not waren meine Eltern bemüht, ein Leben in<br />

geordneten Bahnen zu führen und mir die Augen für echte Werte offen zu halten - Werte in der Natur, in der<br />

Kultur, in der Moral, in der Ethik.<br />

Die Erinnerungen an Angst und Schrecken, Hungern und Frieren verschwinden aus dem Gedächtnis. Sie werden

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