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Mein Jahr 1945 - Coswig

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er hatte sich seine Händchen fürchterlich verbrannt. Um seine Schmerzen zu lindern, hatte ihm Muttel<br />

Notverbände mit Brandsalbe auf die Hände gelegt. Langsam heilten seine Hände ab.<br />

Wie viele Frauen, war Frau Grafe mit ihren Sorgen alleine. Zwar wohnten ihre Schwiegereltern in der Nähe und<br />

sie besuchten sich gegenseitig; auch ihr Vater kam öfters. Mit ihrem Haushalt kam sie zurecht. Aber echt<br />

beistehen konnte ihr niemand.<br />

Inzwischen war es Herbst geworden. Kalt und rau war das Wetter, immer früher wurde es dunkel. Das<br />

Heizmaterial, Rohkohle, wie sie aus dem Tagebau kam und das Holz aus dem Wald waren so knapp, dass<br />

meine Muttel immer erst am Abend, wenn sie die Abendmahlzeit kochte, den Ofen heizen konnte. Da sah sie es<br />

ganz gerne, dass ich die Nachmittage mit meinem Freund Christoph im Walde verbrachte. Wir kletterten am<br />

Hohen Stein und beobachteten alles, was es zu sehen gab: Die Laubfärbung, das Abwerfen der Nadeln bei den<br />

Lärchen, die Tiere, das Fließen des Wassers im Bach ... . Meistens kamen wir erst nach Einbruch der Dunkelheit<br />

wieder zu Hause an. - Jetzt an die Schularbeiten! - Aber nun gab es "Stromsperre". Fast jeden Tag wurde<br />

abends der Strom abgeschaltet. Wann, wusste man nie. Wie lange, wusste man auch nie. Kerzen gab es nicht,<br />

Petroleum für die Lampe, die meine Oma noch hatte, auch nicht. Jetzt half uns das Bunkerlicht, das unser Vater<br />

aus der Gefangenschaft mitgebracht hatte (jetzt eine mit Montanwachs, d.i ungereinigtes Paraffin, gefüllte<br />

Schuhkremdose mit einem Docht). Die Lichtspende war spärlich. Nach einigen Tagen hatte ich eine Idee. Ich bog<br />

aus Draht eine Halterung, die das Bunkerlicht und dahinter den Rasierspiegel von unserem Vater hielt. Diese<br />

Stellage hängte ich an einem Draht so über dem Küchentisch auf, dass der Lichtschein vom Spiegel auf mein<br />

Schulheft viel. So machte ich an dem einen Ende des Tisches meine Schularbeiten, während am anderen Ende<br />

meine Mutter das Abendessen vorbereitete. Zwischen uns saß meine Oma und half meiner Mutter. Unser Vater<br />

kam erst spät aus dem Büro. Da mussten wir alle mit unserer Arbeit fertig sein.<br />

Was es als Lebensmittelration auf die Marken gab, reichte nicht zum Sattwerden Die Kartoffelernte war lange<br />

vorbei. Wo gab es noch etwas Essbares? Im Walde gab es Bucheckern! Wir suchten Bucheckern. Das war<br />

mühsam. In hundert aufgepulten Bucheckern fand ich bestenfalls einen Kern. Der schmeckte zwar köstlich, aber<br />

für den großen Hunger war er zu klein. Es war ein schlechtes Bucheckernjahr. Eicheln gab es viele! Und so<br />

sammelten wir Eicheln. Ich kostete - fatal bitter. Unser Vater sagte: "Früher wurden Schweine mit Eicheln<br />

gefüttert, davon schmeckt aber der Speck ranzig." Darauf die Muttel: "Wem unser Speck ranzig schmeckt, ist uns<br />

egal." Und so sammelten wir unsere Rucksäcke voll Eicheln und freuten uns, wie groß doch die Eicheln waren.<br />

Zu Hause wurden sie ausgebreitet, damit sie, ohne zu schimmeln, als Wintervorrat getrocknet werden konnten.<br />

Dann gab es eine neue Abendbeschäftigung: Eicheln schälen. Damit sie nicht so bitter schmeckten, wurden sie<br />

bis zum nächsten Abend gewässert; dann getrocknet, leicht angeröstet und danach auf der Kaffeemühle<br />

gemahlen. Am Morgen kochte die Muttel aus dem Eichelschrot und etwas Mehl eine Suppe. Die schmeckte

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