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Mein Jahr 1945 - Coswig

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"Zum Tunnel". Am Mittagstisch hatte sie zehn Tischgäste im Abonnement, dazu die durchreisenden Gäste vom<br />

Frühstück bis zum Abendbrot. Das waren an der verkehrsreichen Straße nicht wenige! Daneben pflegte sie ihre<br />

bettlägerige Schwiegermutter bis zu deren Tod. Später übernahm sie mit ihrem Mann den Gasthof in Altzella bei<br />

Nossen, ein beachtliches Anwesen mit Saal, Ausspanne und Hotelzimmern. Ihr Mann betrieb zusätzlich einen<br />

Biergroßhandel und war häufig bis in die Nacht hinein mit dem Gespann unterwegs. Das war sicher ihre<br />

glücklichste Zeit. Ihre Kinder Fritz, Hans, Viktor, Friedel und Liesel bevölkerten den Hof. Doch dann kam das<br />

Unglück: - ihr Mann starb 36jährig an einem Herzleiden. Nun stand sie allein mit ihrer Kinderschar. - Dann<br />

verliebte sie sich in einen Logiergast. Er war Bauleiter bei der Elektroinstallation des Talbades, einer in der Nähe<br />

ihres Gasthofes befindlichen Firma. Er hatte ein sicheres Auftreten und war seriös. Sie heiratete ihn. Seine Worte<br />

bei der Hochzeit: "Bei einer Frau mit solchen Händen wird man nicht verhungern." Bald erfuhr sie von einem<br />

Bankangestellten, dass er seine Schulden mit den Mündelgeldern ihrer Kinder deckte, und sie ließ das Konto für<br />

ihn sperren. Der Gasthof in Altzella wurde verkauft und eine still liegende Gaststätte in der Burgstraße in Meißen<br />

übernommen. Doch noch vor der Neueröffnung wurde auch diese aufgegeben, und die Familie zog nach<br />

Dresden. In Dresden betrieb meine Oma nacheinander einen Kolonialwarenladen (so nannte man die<br />

Lebensmittelgeschäfte damals) am Martin-Luther-Platz, das Dianabad (Kur- und Wannenbad mit angeschlossener<br />

Wäscherei) beim Großen Garten, ein Geschäft, das Tresore verkaufte und eine Gaststätte in Dresden-Löbtau<br />

nahe der Heil- und Pflegeanstalt. Ihre Kinder wurden erwachsen, erlernten Berufe, heirateten. Ihr ältester Sohn<br />

Fritz bekam ein Söhnchen, aber die Mutter lief davon. So kam ihr Enkel Harry zu ihr, und sie zog ihn auf wie<br />

ihre eigenen Kinder - nur mit mehr Aufwendung. Dann starb ihr zweiter Mann. Sie hatte auch ihn zu Hause bis<br />

zu seinem Tode gepflegt. - Die große Wohnung in der Radebeuler Straße musste sie aufgeben. Sie zog zu<br />

ihrem Sohn Hans. In seiner Familie hat sie meine Cousine Ursel vom Baby-Alter an gehütet.<br />

Ihre Rente war dürftig. Zwar unterstützten sie ihre Kinder finanziell - aber die waren auch nicht reich. Und so<br />

arbeitete sie an den Wochenenden als Köchin - so in der allen Dresdnern bekannten Gaststätte "Eule" an der<br />

Grundstraße. - Während des zweiten Weltkrieges war die Spitzgundmühle in <strong>Coswig</strong> eine von vielen Menschen<br />

besuchte Gaststätte. Die Krankenhäuser in <strong>Coswig</strong> waren Lazarette, und wenn die Angehörigen ihre Verwundeten<br />

besuchten, brauchten sie etwas zu essen und einen Platz, an dem sie die Misere für kurze Zeit vergessen<br />

konnten. Die Familie Grille, Besitzer und Betreiber der "Spitzgrundmühle", suchte eine tüchtige und erfahrene<br />

Köchin und besann sich auf meine Oma, eine Verwandte von ihnen. Bis zu weit über hundert Essen musste sie<br />

hier pro Mahlzeit nicht nur kochen, sondern auch zum Servieren fertig machen und ausgeben. Jede Portion<br />

musste sie sorgfältig abwiegen. Das Essen gab es ja auf Lebensmittelmarken, und es gab Gäste, die mit der<br />

Briefwaage ihre Portion nachwogen - amtliche Kontrolleure. Da hatte sie ein große Verantwortung besonders<br />

gegenüber der Gasstättenleitung. "Man hat zu tun wie der Rat zu Leipzig" - war Omas häufige Rede.<br />

Ihr Leben war voller Aufgaben gewesen. Das war nun alles vorbei. Aber sie war rüstig und aktiv. Sie suchte ihre

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