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Mein Jahr 1945 - Coswig

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Am Nachmittag stürmten zwei russische Soldaten und zwei Frauen in unser Haus, offensichtlich Liebespaare. Die<br />

Frauen Ostarbeiterinnen. Das eine Paar verschwand zielsicher im Schlafzimmer, das andere postierte sich vor der<br />

Tür. Wenige Minuten später gingen sie wieder. Sie hatten sogar das Bett wieder gerichtet. Frau Dreißig, die<br />

zufällig bei uns war: "Nein, wie die Karnikel." - Inzwischen war ich auch aufgeklärt.<br />

*<br />

Ich darf nicht verschweigen, dass nicht alle diese Tage so glücklich überstanden haben wie wir. Im Zentrum von<br />

<strong>Coswig</strong> soll es Plünderungen gegeben haben, und viele Frauen sollen vergewaltigt worden sein, manche so<br />

brutal, dass sie ernsthafte Schäden davongetragen haben. Unsere Ärzte hatten viel Arbeit, die vergewaltigten<br />

Frauen medizinisch zu versorgen.<br />

Auch nachdem die Russen da waren, haben sich noch <strong>Coswig</strong>er das Leben genommen. Der 53 <strong>Jahr</strong>e alte<br />

Kraftwagenführer Walter Förster von der Horst Wessel-Straße wurde am 8. Mai auf dem Friedhof erschossen<br />

aufgefunden. Man deutete seinen Tod als Selbstmord. Er wurde am 10. Mai begraben; Pfarrer Gaudlitz sprach<br />

am Grab ein Gebet und den Segen. Das Ehepaar Adler von der Wettinstraße hat sich am 8. Mai 12.30<br />

zusammen mit seinem zweieinhalb <strong>Jahr</strong>e alten Töchterchen vergiftet. Welche seelische Not die Familien gelitten<br />

haben, erahnt man, wenn man das Ende der Familie Keller erfährt. Am 8. Mai 12.30 vergiftete sich der Vater mit<br />

Veronal. Er war 60 <strong>Jahr</strong>e alt und Kaufmännischer Direktor. Seine 47 <strong>Jahr</strong>e alte Ehefrau vergiftete sich am<br />

gleichen Tag um 16 Uhr. Ihre 17 <strong>Jahr</strong>e alte Tochter schied am Folgetag 20 Uhr freiwillig aus dem Leben. - Die<br />

Eltern waren in Köln, die Tochter in Hamburg geboren. Sie bewohnten die vornehmste Villa in <strong>Coswig</strong>,<br />

Lutherstraße Nr. 1. Beide Familien wurden ohne den Segen der Kirche begraben.<br />

Dann erfuhren wir, dass Herr Grahl und Herr Schneider von den Russen erschossen worden sind. Wir erinnerten<br />

uns, Herr Grahl, das war doch der nette Mann, der so großzügig das Pferdefleisch verteilt hatte. Ja, das ist doch<br />

der Vater von meinem Schulfreund Herbert! Als ich Herbert damals traf, sagte er es mir, und er konnte nur mit<br />

Mühe Schluchzen und Tränen unterdrücken. Er tat mir so leid. Erst jetzt, viele <strong>Jahr</strong>e später, habe ich den Mut<br />

gefasst, ihn nach dem Tod seines Vater zu fragen. Ich versuche, aus Herberts Erzählung und einigen<br />

Recherchen die letzten Stunden von Herrn Grahl zu rekonstruieren.<br />

Herr Grahl war Kommunist. Zu Beginn des Krieges war er zur Luftwaffe eingezogen worden, aber 1944 wegen<br />

seines schweren Rückenleidens wieder in die Heimat entlassen worden. Da lebte er wieder mit seinen drei<br />

Jungen und seiner Frau in dem kleinen Hause auf der Spitzgrundstraße gegenüber dem ehemaligen Neucoswiger<br />

Rathaus. Sein großer Sohn war 1944, siebzehnjährig, gefallen. Familie Schneider bewohnte ihr stattliches Haus

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