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Mein Jahr 1945 - Coswig

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kräftig bitter, aber wir begannen jeden Tag mit etwas Warmem im Bauch. Und das war gut so.<br />

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Die Essenzubereitung erforderte viel Fantasie. Und unsere Mutter entwickelte Fantasie! 1 Liter Molke und eine<br />

Kartoffel, was kann man daraus machen? Die Molke aufkochen, die rohe Kartoffel in die kochende Molke reiben.<br />

Aufkochen. Abkühlen lassen. Es entstand eine gallertige graue Masse. Die gallertige Masse mit dem<br />

Schneebesen zu Schaum schlagen eine Prise Zucker mit unter schlagen, dann war das Schlagsahne und wurde<br />

an Festtagen zum Kartoffelkrümelkuchen gegessen. Mit untergerührter, gehackter Zwiebel war das Quark und<br />

wurde zu Pellkartoffeln gegessen. Das war auch ein Festessen. Man konnte herrlich rülpsen nach so einer<br />

Mahlzeit! - Wir hatten einmal einen Herrn zu Gast, und meine Mutter lud ihn zu so einem Abendessen ein. Nach<br />

dem Essen gingen wir einzeln kurz hinaus. Er wusste nicht, was auf ihn zukommt. Es war ihm sichtlich fatal, aber<br />

er kämpfte wacker mit der Luft in seinem Bauche. Er hatte sich über die Einladung gefreut. Zum Dank schickte er<br />

uns eine Kiste mit Briketts, Inhaltsangabe "Ofenkacheln". Er arbeitete im Braunkohlenbergbau und bekam Kohle<br />

als Deputat. Aber verschickt werden durfte Kohle nicht.<br />

Wie gut Kartoffeln schmecken, das habe ich damals ganz schnell gelernt. Das beschriebene Essen schmeckte mir<br />

gut. Es gab aber auch Essen, das, trotz sorgfältiger Zubereitung, nur der Hunger hinein trieb. Wir hatten in<br />

<strong>Coswig</strong> eine Sauerkrautfabrik. Der Inhaber der Fabrik hatte - war's Menschenliebe, war's Selbsterhaltungstrieb,<br />

war's Schläue - alles, was er bekommen konnte, eingesalzen: natürlich Weißkraut, auch Möhren, Kürbis und auch<br />

zerkleinerte Rübenblätter. Jetzt verkaufte er seine Erzeugnisse. Sauerkraut ist bekannt. Die eingesalzenen und<br />

gesäuerten Möhren und der Kürbis schmeckten uns pikant, aber man rationierte sie, und wir bekamen davon nur<br />

wenig. Die Rübenblätter verkaufte er frei. In ihrer Not kaufte meine Mutter gleich zwei Eimer voll und schleppte<br />

sie nach Hause. Dann fuhren wir noch einmal mit dem Rollfix los und holten noch zwei Eimer voll. Es war eine<br />

schwappende, grüne Masse; furchtbar salzig. Die Muttel versuchte, das Salz auszuwaschen, schlämmte die<br />

Masse portionsweise mehrmals mit Wasser auf und seihte die Feststoffe durch ein Tuch ab. Dann kochte sie<br />

daraus etwas, das aussah wie Spinat. Durch Würzen mit Liebstöckel gab sie dem Brei etwas Aroma. Das Salz<br />

ließ sich nur zum Teil entfernen. Normalerweise kochte meine Mutter salzarm, weil das als gesund galt. Aber<br />

dieses Essen war total übersalzen. Trotz aller Probleme versuchte unsere Mutter, die Kost abwechslungsreich zu<br />

gestalten. Es gab auch Zuckerrübenschnitzel, gekocht wie saure Kartoffelstückchen. Alles wurde aus Hunger<br />

verzehrt. Auch die vier Eimer eingesalzener Rübenblätter wurden nach und nach alle. Die meisten Notgericht<br />

habe ich vergessen. Später erzählte mir meine Mutter, dass sie oft geweint hat, wenn sie alleine in der Küche<br />

war. Es tat ihr furchtbar leid, dass sie uns so schreckliches Essen vorsetzen musste. Als die Notzeit überwunden<br />

war, war es für sie eine Freude, üppige und reichliche Mahlzeiten zuzubereiten, bei denen Besonderheiten nie<br />

fehlen durften. Sie freute sich daran, wie es allen schmeckte; aber wenn gestöhnt wurde, zu viel oder zu fettig,<br />

dann war sie traurig. Sie dachte daran, wie schlimm es in der Hungerzeit war, und wie undankbar wir heute<br />

waren, wenn wir uns über das "Zuviel" beklagten.

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