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Mein Jahr 1945 - Coswig

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von Ruinen umgeben. Der Zwinger, in dem wir so gern spazieren gegangen waren und die Gaststätten, in denen<br />

wir bei Stadtbesuchen gegessen hatten - alles nur noch Trümmer!<br />

Die Straßen bis zur Mitte von Trümmerschutt bedeckt. Schmale Trampelpfade hatten sich gebildet und ließen<br />

erkennen, wo die Straße war. Wir wollten Onkel Arnos Haus und Werkstatt aufsuchen. Doch alles zerstört und<br />

nicht mehr auffindbar. Zwischen Postplatz und Hauptbahnhof ein unwegsames Trümmergelände. Vom<br />

Hauptbahnhof standen nur noch die Fassaden und das Stahlskelett der Bahnsteighalle. Auch südlich vom<br />

Hauptbahnhof nur Trümmer. Das Haus, in dem die Klinik war, stand. Dr Hoenicke empfing uns feundlich: "Ja, an<br />

dem Hause ist nichts passiert. Als ob in einem dichten Netz eine Masche gerissen wäre." Er konnte meiner<br />

Mutter helfen. Er hat später auch meinem Vater und mir geholfen. Er hat noch lange praktiziert.<br />

*<br />

Onkel Fritz, Muttels ältester Bruder, besuchte uns. Wir empfingen ihn freudig. Von seinem Gesicht kam nur ein<br />

müdes Lächeln zurück. In der Stube wartete er schweigend, bis sich alle gesetzt hatten. Dann sagte er: "Harry<br />

ist gestorben." – Harrys Freund hatte es geschrieben; der Freund, mit dem er als Gefangener auf einem<br />

tschechischen Gehöft gearbeitet hatte. Sie hatten bei herrlichem Sommerwetter Getreide eingefahren. Vom Feld<br />

gekommen, hatte sich Harry erhitzt unter die kalte Dusche gestellt. In der Nacht bekam er Kopfschmerzen und<br />

hohes Fieber. Der Bauer holte den Arzt. - Diagnose: Hirnhautentzündung. Die Bäuerin hat ihn gepflegt, als ob es<br />

der eigene Sohn wäre, aber er überlebte die Krankheit nicht. Wir schwiegen lange. Dann sagte die Oma: "Nun<br />

auch noch Harry." Tränen liefen ihr über die Wangen. – Sie hatte ihn aufgezogen, weil seine Mutter ihre Familie<br />

verlassen hatte. Jetzt sah sie, wie sie ihn als kleinen Jungen an der Hand führte. Wie sie mit ihm einkaufen ging.<br />

Nein, gebettelt hat er nie. Aber am Apfelsinenstand sagte er oft: "Oma, Harry Abdesine gerne esse." Und da<br />

konnte sie natürlich nicht vorbei gehen, ohne ihm eine zu kaufen. - Ich dachte daran, wie er mit mir sein<br />

Segelflugzeug fliegen ließ, das er bei der Flieger-HJ gebaut hatte. Und wie er mir zu Weihnachten ein eigenes<br />

Segelflugzeug geschenkt hatte. Und wie er es nur mit einem verzeihenden Lächeln quittierte, als ich ihm eine<br />

Drahtleitung hoffnungslos zerknüllt hatte.<br />

Onkel Fritz lebte mit Harry allein. Bereits vor dem Kriegsausbruch war er als erfahrener Kriegsteilnehmer aus dem<br />

1. Weltkrieg zu den Pionieren eingezogen worden. Da war Harry allein. Zur Oma konnte er nicht wieder, die hatte<br />

keine eigene Wohnung mehr. Da nahmen meine Eltern Harry zu uns, und das Gericht übertrug meinem Vater die<br />

Vormundschaft über ihn. Harry war Schlosserlehrling, so wie mein Vater es auch einmal gewesen war. Als die<br />

Meldung vom Einmarsch der deutschen Truppen nach Polen kam, sagte meine Mutter zu Harry: "Da ist dein Vati<br />

dabei; wenn es lange dauert, musst du auch noch mit." Harry wurde bei dem Gedanken ganz blass. <strong>Mein</strong>er<br />

Mutter haben die etwas unbedachten Worte ihr Leben lang leid getan.

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