98 <strong>Jenseits</strong> <strong>von</strong> <strong>Darwin</strong> nen, in einer schwindelerregend kurzen Zeit ihre komplexen Verhaltensweisen es hilft nichts: erlernt haben, und zwar so gut, daß sie es überhaupt nicht nötig zu haben scheinen, daran etwas zu ändern. Offenbar haben sie zugleich diese Ära angstmachender Unsicherheit völlig vergessen; Homo sapiens lernt vielleicht noch, daß er sich inmitten eines solchen Zustandes befindet und weder Vergangenheit noch Zukunft als Ära verlorenen oder noch zu empfangenden Glücks beschreiben kann.
11. Spekulationen 99 11. SPEKULATIONEN Beim Spekulieren war <strong>Darwin</strong> der Erste • Wissenschaftsmüdigkeit und des Kaisers neue Kleider • Facetten ein und derselben Fragestellung: cerebraler Code, Biophotonen und morphogenetisches Feld • Müssen Spekulationen immer scheitern? • Was Mannheimer Bakterien und Münchener Hunde gemeinsam haben könnten • Über die Vorsicht beim Tappen im Dunkeln Wozu, könnte man fragen, gibt es in einem Buch, das <strong>von</strong> Spekulationen nur so wimmelt, dafür auch noch ein Extrakapitel? Ist eine Steigerung des bislang freigesetzten spekulativen Potentials überhaupt noch möglich? Das vielleicht nicht, aber es ist nützlich, die bereits eingeflochtenen und nicht immer als solche kenntlich gemachten Spekulationen zusammenzufassen und sie mit einigen anderen noch nicht zur Sprache gekommenen zu bündeln. Daraus ergeben sich Ausblicke auf zukünftige Forschungsfelder. Spekulationen sind gewissermaßen Formulierungshilfen für neue Fragen an und neue Blickwinkel für die Natur. Hatte nicht auch <strong>Darwin</strong> spekuliert, d.h. »durch Überlegungen den Bereich der Erfahrungen überschritten«? Tatsächlich hat ihn der Bereich der Erfahrungen im Hinblick auf etliche Hypothesen Lückenhaftigkeit der Fossilurkunden, Zufallsregime auf der Ebene der Varietätenbildung usw. bis heute schmählich im Stich gelassen. Seine größte Spekulation bestand allerdings in der Annahme innerweltlicher Ursachen für die Evolution. In diesem Satz sind genaugenommen zwei Spekulationen enthalten. Bezüglich des Phänomens »Evolution« die eine Spekulation halten wir uns an die lateinische Übersetzung: »abwerfen, hinaustreiben, verdrängen, auseinanderwickeln, aufrollen, entwickeln, darstellen«. Das ist es, was die nichtspekulativen Fossilzeugnisse verraten. Dann sind da die innerweltlieben Ursachen. Wir haben uns an diesen Gedanken gewöhnt, und unterstellen nicht gleich »transzendente Mächte«, wenn die Ursache sich nicht aufzeigen läßt (vgl. aber Pertigen 1988b). Für die Gegner <strong>Darwin</strong>s hingegen war dieser Gedanke erschreckend: Die innerweltlichen Ursachen sind blind; es gibt kein vorprogrammiertes Heil mehr für die Menschen. Wir wissen aber mittlerweile: Ordnung ist die Voraussetzung für den Prozeß der Spekulation; wer noch keine gesicherten Erfahrungen machen konnte, vermag auch nicht zu spekulieren. Das Phänomen des spekulativen Geistes ist also der Beweis für einen grundlegenden (und stabilen) Zug <strong>von</strong> Ordnung in der Natur. Hinsichtlich der Variabilität der Arten hat <strong>Darwin</strong> nur begrenzt spekuliert, denn er hat die Erfahrungen aus der künstlichen Zuchtwahl auf die freie Natur übertragen. Die variablen Exemplare einer Art werden zum Objekt der Naturkräfte, sie verrichten an ihnen eine natürliche Zuchtwahl. Die morphologischen Eigenschaften eines Tieres oder einer Pflanze sind gezielt variabel. Was dem Menschen beim Schwein die zusätzliche Rippe ist, wird vor dem Gericht der natürlichen Zuchtwahl die Fitneß. So wie es vorderhand nicht unmöglich ist, aus einem Schwein mit N Rippen eines mit (N+ 1) Rippen zu machen, so kann, wenn nur genügend Zeit ins Land geht, aus einem Reptil ein Vogel werden. Das ist, wie gesagt, nicht auszuschließen. Das Problem besteht lediglich darin, daß wir niemals einen »speculator«, eine Aufklärungstruppe empfangen werden, die uns diese Annahme verifiziert. <strong>Darwin</strong> sprach nie ausdrücklich da<strong>von</strong>, daß in dieser Hinsicht nur »specula«, nämlich schwache Hoffnung sei. Das Parkett des <strong>Darwin</strong>ismus ist hinsichtlich der Verifizierbarkeit »speculoclarus«, i.e. spiegelglatt.