03.10.2013 Aufrufe

Jenseits von Darwin - Christian Blöss

Jenseits von Darwin - Christian Blöss

Jenseits von Darwin - Christian Blöss

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

10. Natürlich: Der Mensch 97<br />

Lange Zeit galt ja die Bipedie als Agens der intellektuellen Entwicklung: Werden die Hände<br />

erst einmal frei, können sie handwerklichen tätig werden, was jedem mutativen Fortschritt in<br />

der Gehirnentwicklung einen starken Selektionsvorteil im Überlebenskampf gewährt hätte<br />

(vgl. Heberer, Stichwort »Bipedie« im kleinen Abc). Dagegen hat Owen C. Lovejoy´s These<br />

des Zusammenhangs protomenschlicher Fähigkeit zum Verlieben, zu Monogamie und der damit<br />

einhergehenden Stabilisierung des Sozialverbandes sowie der besseren Futterversorgung<br />

einerseits und dem Vorteil der Bipedie andererseits viel Zuspruch (aber auch harte Kritik<br />

vgl. Hrdy 1981) gefunden. Bipedie, so Lovejoy, könnte vor jeder Dialektik <strong>von</strong> Hand und<br />

Geist der besseren Nahrungsversorgung gedient haben, auf diese Weise das Liebesverhältnis<br />

fördern, zu dem eine anhaltende weibliche Brunftzeit wiederum einiges beigetragen hätte<br />

usw. Manche Autoren haben diesen Gedankengang dann so weit ausgereizt, daß sie die ganze<br />

Latte menschlicher Charakteristika <strong>von</strong> der Bipedie über den großen Schädel bis hin zu geschlechtsspezifischen<br />

Kulturleistungen aus dem Sumpf des infantil angehauchten menschlichen<br />

Liebeslebens als primärem Selektionsvorteil an den Haaren herausgezogen haben (vgl.<br />

Pertigen 1988a).<br />

Einer der erstaunlichsten Umstände beim Heranwachsen eines Embryos liegt darin, daß auch<br />

die später als Speicher der ohne Lernen abrufbereiten Verhaltensweisen anzusprechende Gehirnpartie<br />

erst noch wachsen muß. Die befruchtete Eizelle hat dieses Gedächtnis noch nicht,<br />

sie könnte sich nicht »verhalten« (wenn auch großenteils aus physiologischen Gründen<br />

nicht). Es vollziehen sich Zellteilungen und spezialisierungen, die ob nun chemisch, elektromagnetisch<br />

oder genetisch letztlich den artspezifischen Speicher für diese Verhaltensweisen<br />

organisieren werden. Der Instinktverlust des Menschen und die (daraus wohl resultierende)<br />

lange Zeit des Lernens im sozialen Kontakt wird also etwas mit der verfrühten Geburt zu tun<br />

haben. Banal gesagt, ist das Bauwerk seiner Bibliothek an Verhaltensformen nicht vollendet,<br />

das Baumaterial ist zum Teil noch frei und wird erst im Laufe des Lebens sowohl zur Bildung<br />

eines epochenspezifischen als auch eines individuellen Überbaus verwendet werden.<br />

Der in den siebziger Jahren aufflammende Sozio<strong>Darwin</strong>ismus hat großen Wert auf den Beweis<br />

gelegt, daß der Unterbau jene nichtmaskierten »egoistischen Gene« einen großen Teil<br />

des menschlichen Sozialverhaltens bestimme und daß folglich das Maß an Freiheit weitaus<br />

geringer sei, als man bislang anzunehmen gewillt war. Wir Mitteleuropäer haben <strong>von</strong> den<br />

Kontroversen in den Vereinigten Staaten, wo die allermeisten der Sozio<strong>Darwin</strong>isten leben<br />

und schreiben, wenig mitbekommen. Einige populärwissenschaftliche Bücher dieser Denkrichtung<br />

sind auch bei uns erschienen, etwa »Das egoistische Gen« (1978) <strong>von</strong> Richard<br />

Dawkins (»Ich betrachte eine Mutter als Maschine, die so programmiert ist, daß sie alles in<br />

ihrer Macht Stehende tut, um Kopien der in ihr enthaltenen Gene zu vererben.« [145]), oder<br />

»Der nackte Affe« (1968) <strong>von</strong> Desmond Morris (»Wie wenig, wie außerordentlich wenig hat<br />

sich doch der nackte Affe seit seinen Anfängen in lange vergangener Zeit geändert!« [175]).<br />

Diese Bücher wirken wie eine hämische Reaktion auf die die Menschheit begleitenden unzulänglichen<br />

Versuche, aus dieser Freiheit Verantwortung bestimmen zu wollen. Die Vision<br />

vom Menschen als Krone der Schöpfung respektive Gipfel der Evolution hat eine lange und<br />

nicht ausrottbare Tradition. Der Mensch mit seiner bislang wirklich nur punktuellen Anwesenheit<br />

auf der Erde könnte eine Fluktuation oder eine materielle Konzentration der lernenden<br />

Natur sein, ein nur müder Abklatsch allerdings, denn die übrige Natur schlägt den Menschen,<br />

was Effizienz und Komplexität <strong>von</strong> Lösungen und Lösungsstrategien angeht, um Längen.<br />

Der Mensch wäre so etwas wie ein vergessener, ein nicht wieder integrierter Teil der<br />

Natur, der immer noch mit etwas beschäftigt ist, was alle anderen Arten wenn auch nur zwischenzeitlich<br />

und epochenüberspannend können: sich lernend mit der Umwelt zu arrangieren.<br />

Dieser scheinbar vor Banalität triefende Satz soll an den Umstand erinnern, daß alle Arten,<br />

deren Entstehungszeitraum wir mit unseren Datierungsmethoden ja nicht auflösen kön-

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!