Jenseits von Darwin - Christian Blöss
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94 <strong>Jenseits</strong> <strong>von</strong> <strong>Darwin</strong><br />
gleich sowohl auf die Eindämmung gefürchteter Ereignisse wie Krankheit und Tod via<br />
»Technologie« als auch auf die Zurückweisung <strong>von</strong> mit Angst begleiteten, gewissermaßen<br />
eingebildeten zukünftigen Gefahren via Religion, wobei es keine klare Trennungslinie zwischen<br />
diesen bei den »hominiden Strategien« gibt. Ohne Zweifel ist der Antrieb zur Schaffung<br />
<strong>von</strong> »technologischen Strukturen« oder <strong>von</strong> »Wissen« sehr häufig auf psychologischen<br />
Gebieten zu orten, deren Betreuung vormals eine Aufgabe der religiösen Gemeinschaft gewesen<br />
ist. Wir können uns also durchaus mit der Behauptung vorwagen, daß die modernen humanen<br />
Kulturleistungen wie die Technologie keineswegs das Produkt einer Höherentwicklung<br />
an sich sind, sondern vielmehr eine zeitliche Kulturvariante darstellen, die ihre Entstehung<br />
primär der generellen psychischen Notdurft des Menschen verdankt, nicht nur, wie alle<br />
Tiere, auf Furcht reagieren zu müssen, sondern zusätzlich (und vielleicht als einzige) auch<br />
noch ein Maß an Angst bearbeiten zu müssen, das nicht <strong>von</strong> außen produziert, sondern allenfalls<br />
provoziert wird. (<strong>Blöss</strong> 1987)<br />
Was also ist der Unterschied <strong>von</strong> Mensch zu Tier) Vielleicht kommen wir einer Antwort näher,<br />
wenn wir berücksichtigen, daß man nur beim Menschen, oder beim »Homo«, zwischen<br />
Fossil und Artefakt unterscheidet. Das Artefakt ist ein »Kunsterzeugnis«, es wird, weil es<br />
»künstlich« ist, nicht ein als den Menschen notwendig begleitender Gegenstand aufgefaßt.<br />
Das Beil könnte auch ein Holzknüppel, eine Axt, ein Totschläger oder eine Säge sein, der<br />
Mensch ist in dieser Gestaltung frei. Ein Vogelnest, sofern es fossilieren könnte, ist kein Artefakt,<br />
es wird als Zeugnis der determinierten Lebensumstände des Vogels aufgefaßt, es wäre<br />
eben ein »Fossil«. Der kalifornische Seeotter »Euhydra lutris« benutzt einen Stein als<br />
Amboß, um hartschalige Meeresmuscheln zu knacken. Er schwimmt rücklings mit dem Stein<br />
auf dem Bauch und zerschlägt an ihm die Muschel, um ihre Weichteile zu verspeisen. Würde<br />
ein Seeotterbaby <strong>von</strong> seinen Artgenossen getrennt aufwachsen und irgendwann diese Art des<br />
Werkzeuggebrauches <strong>von</strong> alleine aufnehmen, spräche man <strong>von</strong> einem angeborenen oder vererbten<br />
Verhalten. Müßte man ihm hingegen den Werkzeuggebrauch vormachen, so daß er<br />
diesen Gebrauch imitiert und übernimmt, so wäre sein »Amboß« nur dann ein Artefakt, wenn<br />
der Seeotter ihn sich zum Zwecke des Muschelknackens unter verschiedenartigen Werkzeugen<br />
ausgesucht und vielleicht sogar auf das richtige Maß verkleinert hat.<br />
Obwohl der Werkzeug und Werkstoffgebrauch im Tierreich weit verbreitet ist, kann in den<br />
seltensten Fällen <strong>von</strong> Artefakten gesprochen werden: der prospektiven Auswahl oder Herstellung<br />
<strong>von</strong> Gegenständen zur Erreichung eines vorsätzlichen Zieles. Mit dieser Formulierung<br />
begibt man sich allerdings aufs Glatteis, was anhand des folgenden Beispiels deutlich wird:<br />
Zahlreiche Insekten fertigen aus Laubblättern Rollen oder Tüten zur Eiablage. Diese Fertigungsvorgänge<br />
können sehr komplex, kunstvoll und intelligent sein. Die Blätter werden vergleichbar<br />
mit Nähschnittmustern vorgeschnitten, gekerbt, geschlitzt und die das Einrollen erschwerenden<br />
Blattrippen in regelmäßigen Abständen durchtrennt, so daß schließlich das Blatt<br />
zu der fertigen Tüte eingerollt und fixiert oder verklebt werden kann. Diese Insekten bedürfen<br />
aller Wahrscheinlichkeit nach keines sozialen Lernens, sie können es <strong>von</strong> allein. Dabei ist<br />
das Beispiel der Blattroller nur eines unter vielen anderen, wenn es um die Produktion der<br />
Natur <strong>von</strong> Artefakten geht. Man denke nur an das Spinnennetz, den Ameisenhügel oder die<br />
Nestbauten im weitesten Sinne. Das alles sind aber Artefakte der Natur und nicht jeweils die<br />
der künstlerisch tätigen Arten. Würde man sie ihrer natürlichen Umgebung berauben, dann<br />
wäre ihre Kreativität nach menschlichen Maßstäben schnell am Ende.<br />
Wenn die tierischen Künstler nach unserem Verständnis auch keine Wahlfreiheit haben, so<br />
verhalten sie sich dennoch prospektiv. Die Fabrikationsvorgänge sind zeitlich organisiert und<br />
einem Ziel verpflichtet, sie sind teleonomisch, also zweckmäßig. Diese Zweckmäßigkeit erstreckt<br />
sich bis auf die molekulare Organisation der Zelle. Hier sprechen wir <strong>von</strong> Selbstorga-