Jenseits von Darwin - Christian Blöss
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96 <strong>Jenseits</strong> <strong>von</strong> <strong>Darwin</strong><br />
unserer denkbaren Vorfahren, des Australopithecus afarensis. Die Dauer unserer Existenz<br />
würde durch das Datierungssieb späterer Neugieriger hindurchfallen. Grund genug also, die<br />
Generationsdauer des Homo sapiens als Übergangsphase im Auge zu behalten.<br />
Die Struktur des menschlichen Gehirns verweist auf Weiterentwicklung gegenüber allen anderen<br />
Säugern grob gesehen schon in der Relation Gehirn zu Körpergewicht sowie in dem relativ<br />
hohen Energieverbrauch des menschlichen Gehirns. Seine Struktur ist, was die Differenzierung<br />
und die Relationen der Gehirnsegmente untereinander betrifft, auch qualitativ einzigartig.<br />
Das Brocasche Sprachzentrum z.B. fehlt bei allen anderen Tieren, auch den Menschenaffen,<br />
ist aber ansatzweise schon anhand <strong>von</strong> Hirnschalenstrukturen beim Homo habilis zu<br />
vermuten. Die menschliche Sprachfähigkeit wird im allgemeinen als Grundlage der Entwicklung<br />
und Tradierung <strong>von</strong> Kultur und Technologie, <strong>von</strong> Lebens und Überlebensstrategien angesehen.<br />
Die Freiheit des Menschen wird sich späteren Ausgräbern in der Abfolge <strong>von</strong> Kulturepochen<br />
bei strukturell gleichbleibenden Schädelkalotten widerspiegeln.<br />
Nicht nur die progressive Gehirnentwicklung kann als Charakteristikum der Spezies Homo<br />
sapiens gewertet werden, sondern ebenso eine gegenteilige Tendenz, die gegenüber seinen<br />
erklärten Vettern, den Menschenaffen, retardierte Ontogenesis. Der Mensch fällt, was den<br />
Ausdruck seines genetischen Materials betrifft, hinter seine Vettern zurück, er ist retardiert,<br />
juvenil, manche nennen es auch infantil. Die Indizien für die ontogenetische Retardierung des<br />
Menschen hat als erster Louis Bolk vor etwa siebzig Jahren zusammengestellt, <strong>von</strong> denen ich<br />
nur einige nenne: Unsere spezifische Schädelform Kriterium für alle Klassifizierungen mutmaßlicher<br />
Ahnenschädel entspricht dem Aussehen embryonaler bzw. junger Affen, deren<br />
ebenfalls kurzer Kiefer sich erst später zur ausgeprägten Schnauze auswächst. Die Schädelnähte<br />
schließen sich beim Menschen relativ spät und vor allem nach der Geburt, wobei die<br />
Wachstumsrate des Gehirns erst lange nach der Geburt stagniert. Bei den meisten Säugern ist<br />
der Schädel bei der Geburt bereits verhärtet und das Gehirn nahezu fertig. Das Eigenartigste<br />
ist aber die Verknüpfung des aufrechten Ganges mit der Retardierung. Beim aufrechten Gang<br />
liegen Blickrichtung und das den Schädel tragende Rückgrat im rechten Winkel zueinander,<br />
d.h., die Öffnung des Schädels zum Rückgrat liegt »unten« wie bei den Embryonen fast aller<br />
Säugetiere. Bei diesen wandert diese Öffnung das Foramen magnum im Verlaufe der embryonalen<br />
Entwicklung zum Hinterkopf, so daß Rückgrat und Blickrichtung entsprechend dem<br />
vierfüßigen Gang zueinander und zum Erdboden parallel ausgerichtet sind. Beim nachdenklich<br />
und biped dahinwandernden Homo sapiens geschieht es hingegen, daß Rückgrat und<br />
zum Boden gerichteter Blick antiparallel werden.<br />
Natürlich läßt sich anhand dieses Tatbestandes trefflich darüber streiten, ob die Retardierung<br />
des Homo sapiens ihm als einzigen Ausweg im Überlebenskampf die Spezialisierung des Gehirns<br />
gelassen hat, oder ob die an sich schon zunehmende Gehirngröße zu einer immer früheren<br />
Austreibung des menschlichen Embryos führen mußte. Beide Kausalrichtungen haben einiges<br />
für sich. Unter den Lebendgebärenden kennt als einziger Homo sapiens die schwere<br />
Geburt. Der Embryo kann nur in einer speziellen Haltung den Geburtskanal einigermaßen<br />
ungehindert passieren. Dabei schieben sich sogar die einzelnen Schädelpartien übereinander,<br />
um die Kopfform dem Geburtskanal anzupassen, der für einen Embryo mit der geburtsmäßigen<br />
physiologischen Reife eines Menschenaffen Einbryonen unpassierbar wäre. Mit wachsendem<br />
Schädelinhalt resp. umfang muß der Embryo also immer früher geboren werden. Andererseits<br />
ist auch für die frühesten Australopithecinen der aufrechte Gang belegt, aber es<br />
gibt keine Indizien, daß ihnen eine Periode der Schädelvergrößerung vorausgegangen ist, die<br />
zur Sicherstellung der Geburt eine verfrühte Austreibung des Embryos und damit einen vorzeitigen<br />
Abbruch der Wanderung des Foramen magnum zum Hinterkopf verlangt hätte.