Fragen eines neuen linken Projekts - Instituts für kritische Theorie ...
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Perry Anderson, Folker Fröbel, Jürgen Heinrichs, Otto Kreye<br />
Politik des radikalen Realismus*<br />
1. Die Krise des kapitalistischen Weltsystems<br />
Nach zwanzig Jahren <strong>eines</strong> historisch einzigartigen Booms geriet die kapitalistische<br />
Welt Ende der sechziger Jahre in eine schwere Krise, die mittlerweile<br />
nun schon über zehn Jahre andauert. Anfang der siebziger Jahre begannen in<br />
den westlichen Industrieländern die gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten<br />
zu fallen und die Preise zu klettern, während Massenentlassungen sprunghaft<br />
zunahmen. Heute, gut zehn Jahre später, befindet sich die Weltwirtschaft inmitten<br />
des langen Abschwungs, der das letzte Drittel unseres Jahrhunderts<br />
auszufüllen droht. Immer noch dominieren verlangsamtes Wachstum, Inflation<br />
und Arbeitslosigkeit die Weltwirtschaft. Einzig in das Verhältnis von Inflation<br />
und Arbeitslosigkeit ist seit einigen Jahren Bewegung gekommen: Um<br />
den Preis weiter steigender Arbeitslosigkeit wurde die Inflation eingedämmt -<br />
freilich ohne daß Preisstabilität eingekehrt wäre.<br />
Wo liegen die Ursachen <strong>für</strong> diesen tiefen historischen Einschnitt? Es sind vor<br />
allem zwei Entwicklungen, die in den westlichen Industrieländern die scheinbar<br />
immerwährende Prosperität der Nachkriegszeit unterminiert haben.<br />
1. Der Boom der Nachkriegszeit führte in den westlichen Industrieländern<br />
zu einer entscheidenden Modifikation des Kräfteverhältnisses von Kapital und<br />
Arbeit. Ohne daß die Arbeiter die kapitalistischen Produktionsverhältnisse als<br />
solche subjektiv in Frage gestellt hätten, kam es während der fünfziger und<br />
sechziger Jahre zu einer folgenreichen objektiven Stärkung der Stellung der<br />
Arbeiterklasse im System der kapitalistischen Produktivkräfte. Zum Teil war<br />
dies schlicht eine Folge des hohen Beschäftigungsstandes, den der Boom mit<br />
sich brachte. Auf weitgehend leergefegten Arbeitsmärkten mußte sich notwendigerweise<br />
die Verhandlungsstärke der Gewerkschaften erhöhen, was auf die<br />
Löhne einen Druck nach oben und auf die Profite einen Druck nach unten<br />
ausübte, zumal erstmals kollektive Tarifverhandlungen in den westlichen Industrieländern<br />
zur Norm geworden waren. Zu den direkt sichtbaren Erfolgen<br />
der Gewerkschaften kamen noch die indirekten in Gestalt der Sozialleistungen<br />
und des Sozialstaats hinzu, sei es, daß sie von Parteien durchgesetzt wurden,<br />
die den Gewerkschaften nahestanden, sei es, weil die Lohnarbeiterschaft selbst<br />
in verschiedenen Formen auf einen weiteren Ausbau des Sozialstaats hinwirkte.<br />
Auch die indirekten Leistungen stellten <strong>für</strong> die Akkumulation des Kapitals<br />
eine Belastung dar, wurden sie doch teilweise durch Abgaben der Unterneh-<br />
• In seiner Originalfassung "On Some Postulates of an Anti-systemic Policy« wurde dieser Beitrag<br />
erstmals auf dem VIth International Colloquium on the World-Economy, »National Policies<br />
and Global Movements of Restructuring« yorgctragen, das, gemeinsam organisiert vom<br />
Fernand BraudeI Center for the Study of Economies, Historical Systems, and Civilizations<br />
(Binghamton), von der Maison des Sciences de I'Homme (Paris) und vom Starnberger Institut<br />
zur Erforschung globaler Strukturen, Entwicklungen und Krisen (Starnberg), am 4. und 5. Juni<br />
1984 in Paris stattfand.<br />
DAS ARGUMENT 148/1984 ·s.